Tannenhonig: Ohne Laus kein Zuckerschlecken
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In der Schweiz wird der Tannenhonig wegen seines kräftigen Geschmacks geschätzt. Doch wie entsteht er eigentlich? Die Antwort dürfte einige überraschen: im Teamwork von Biene und Laus!

Bei Honig denkt man in erster Linie an Blütenhonig. Es gibt allerdings auch sogenannten Honigtauhonig, zu dem auch Tannenhonig zählt. Er entsteht nicht aus Blütennektar, sondern – wie der Name schon verrät – aus Honigtau.

Dabei handelt es sich um die zuckerhaltigen Ausscheidungen pflanzensaugender Insekten wie Blatt-, Rinden- und Schildläuse. Sie stechen in die Siebröhren ihrer Wirtspflanzen, in denen Nährstoffe transportiert werden, und saugen daraus den Siebröhrensaft. Überschüssige Kohlenhydrate scheiden die Läuse tröpfchenweise als Honigtau wieder aus, der dann an Blättern, Nadeln, Zweigen und Ästen klebt. Auf die süsse Hinterlassenschaft haben es nicht nur Bienen abgesehen, sondern auch andere Insekten wie Schwebfliegen und Wespen. Auch Ameisen gehören dazu: Sie «melken» die Läuse regelrecht, indem sie den Honigtau direkt von deren Hinterteil auffangen.

Tannenhonig: Ohne Laus kein Zuckerschlecken

Den Anfang macht die Laus

Ob Bienen Tannenhonig produzieren können, hängt also von den Lauspopulationen ab, die auf den Tannen sitzen. Nur wenn die Pflanzensauger in Massen auftreten, kann genügend Honigtau gesammelt werden. Entscheidend ist dabei aber nicht nur die Anzahl der Läuse. Es müssen auch die «richtigen» Läuse sein. Denn nicht jede Lausart liefert gleich gute Qualität beim Honigtau. Ist darin beispielsweise zu viel Melezitose-Zucker enthalten, bildet sich sogenannter Zementhonig. Dieser wird bereits in der Wabe so hart, dass er sich nicht mehr herausschleudern lässt.

Die wichtigsten Honigtauproduzenten auf der Weisstanne sind die grüne Tannenhoniglaus (Cinara pectinatae) und die grosse schwarzbraune Tannenrindenlaus (Cinara confinis). Auf der Rottanne – die Bezeichnung ist etwas irreführend, denn botanisch betrachtet handelt es sich dabei um eine Fichtenart – sind es vor allem die rotbraune bepuderte Fichtenrindenlaus (Cinara pilicornis) und die Kleine Fichtenquirlschildlaus (Physokermes hemicryphus).

Definition von Tannenhonig

Honigtau wird aber auch auf zahlreichen anderen Bäumen gebildet, zum Beispiel auf Ahorn, Birke, Edelkastanie, Eiche, Erle, Esche, Lärche, Ulme und Weide. Auch die Linde «honigt», wie es im Fachjargon heisst. Und treibt regelmässig Autofahrer zur Verzweiflung, wenn der klebrige Honigtau auf das parkende Fahrzeug tropft.

In der Schweiz wird Honig dann als Tannenhonig bezeichnet, wenn er von der Weisstanne und/oder Rottanne stammt. Beim Deutschen Imkerbund ist die Definition etwas strenger: Tannenhonig muss vorwiegend Honigtau von der Weisstanne – also der «echten» Tanne – enthalten.

Was die Definition von Waldhonig angeht, kann man vereinfacht sagen: Alle Honigtauhonige von Waldbäumen, bei denen es sich nicht ausschliesslich um Tannen handelt, werden als Waldhonige bezeichnet.

Nicht nur Geschmackssache

Ob es sich bei einem Honig um einen Honigtauhonig oder einen Blütenhonig handelt, lässt sich häufig schon an der Farbe erkennen. Waldhonige sind deutlich dunkler und rötlich bis braun gefärbt, manchmal sogar grünlich. Auch die Konsistenz verrät viel: Blütenhonig ist eher flüssig, kann aber schnell kristallisieren.

«Wald- und Tannenhonig ist im Vergleich zähflüssiger, kristallisiert dafür aber nur langsam, wenn überhaupt. Geschmacklich ist er weniger süss als Blütenhonig. Sein kräftig-würziges Aroma erinnert bisweilen an Karamell, Malz, Holz und Harz.»
Susanna Lieber

An dieser Stelle sei erwähnt, dass das Geschmacksspektrum eines Mischhonigs in der Regel komplexer und vielschichtiger ist als bei einem reinen Sortenhonig.

Ob und wie stark ein Honig auf Blütennektar oder Honigtau basiert, lässt sich am eindeutigsten durch eine physikalische Grösse feststellen: die elektrische Leitfähigkeit. Sie ist beim Honig abhängig vom Mineralstoff- und Säuregehalt. Nach europäischer Honignorm muss die Leitfähigkeit von Waldhonig bei mindestens 0,8 mS/cm (mS=Millisiemens) liegen, von Tannenhonig bei mindestens 0,95 mS/cm. Im Vergleich: Bei reinem Blütenhonig liegt der Wert bei höchstens 0,5 mS/cm.

Der wichtigste Honig der Schweiz

Die hierzulande produzierte Menge an Honig liegt durchschnittlich bei etwa 4000 Tonnen pro Jahr. Zwei Drittel davon sind Wald- und Tannenhonig. Die Nachfrage liegt allerdings deutlich höher und kann vor allem in den Jahren nicht gedeckt werden, in denen sich die Läuse schlecht vermehren. Erst wenn eine Population regelrecht explodiert, können die Bienen genügend Honigtau sammeln. Die Mengen schwanken von Jahr zu Jahr. Darum gibt es im Schnitt nur alle zwei bis drei Jahre eine ertragreiche Ernte für Wald- oder Tannenhonig. Dies schlägt sich im Preis nieder.

Dieses Frühjahr war leider kein sonderlich gutes Jahr für Honigtau. Der entscheidende Monat Mai war zu kalt und zu nass. Ganz anders im Vorjahr: 2020 war ein Rekordjahr für die Waldhonigernte. Wobei dieses Jahr noch nicht alles verloren ist. Vereinzelt kann es im Herbst passieren, dass Lauspopulationen ein weiteres Mal sprunghaft ansteigen und Bienen den Honigtau noch rechtzeitig sammeln können.

Tannenhonig: Ohne Laus kein Zuckerschlecken

Eldorado für Tannen

Die Schweiz bietet gute Voraussetzungen für Tannenhonig: Die Rottanne wächst in fast allen Regionen in einer Höhe zwischen 250 bis 2200 Meter über dem Meer. Besonders häufig findet man sie in den Alpen, Voralpen und im westlichen Jura. Sie honigt hauptsächlich zwischen Juni und Juli. Bei der Weisstanne liegt der Zeitraum etwas später, zwischen Juli und August. Im Vergleich zur Rottanne ist sie weniger standorttolerant. Sie ist frostempfindlicher und liebt es warm, aber nicht zu trocken. Sie wächst bevorzugt im westlichen Jura, im zentralen Mittelland und in den Voralpen, je nach Region in einer Höhe zwischen 600 bis 1200 Metern über dem Meer.

Mehr als nur fein

Vergleicht man Tannen- oder Waldhonig mit Blütenhonig, unterscheidet er sich in seiner Zusammensetzung. Allgemein lässt sich sagen, dass Honigtauhonig mehr Spurenelemente, Mineralstoffe und Enzyme enthält. Und das macht ihn besonders wertvoll. Darüber hinaus beinhaltet er ätherische Öle.

Als Wunderhonig wie der vielbeschriebene Manuka-Honig aus Neuseeland, der in Krankenhäusern unter anderem bei schwer heilenden Wunden eingesetzt wird und zum Teil sogar gegen resistente Krankenhauskeime Wirkung zeigt, gilt er aber nicht. Wobei Bruno Reihl, Mitglied des Zentralvorstands vom Imkerverband BienenSchweiz, den Vergleich nicht scheut:

«Auch heimischer Honigtauhonig kann eine heilende Wirkung haben, zum Beispiel als Auflage bei leichten Brandwunden. Die im Honig enthaltenen Mineralien fördern das Zellwachstum. Viele Imker nutzen Honig als Wundauflagen oder anderweitig als Hausmittel.»
Bruno Reihl, Zentralvorstand Imkerverband BienenSchweiz

Doch an dieser Stelle sei betont, dass es sich gerade bei der Versorgung offener Wunden unbedingt um «medizinischen Honig» handeln sollte, der mithilfe spezieller Bestrahlung steril gemacht wird.

Unbedenklich ist das Naturprodukt hingegen bei der inneren Anwendung: In Tee oder Milch aufgelöst, kann Wald- und Tannenhonig gegen Halsschmerzen helfen. Was schon unsere Grossmütter zu schätzen wussten. Wobei es auch hier etwas zu beachten gilt: Der Honig sollte nicht über 40 Grad Celsius erhitzt werden, ansonsten verliert er nämlich seine kostbaren Inhaltsstoffe. Anstatt zu «heisser Milch mit Honig» sollte man also lieber zu «lauwarmer Milch mit Honig» greifen. Am feinen Geschmack ändert das glücklicherweise nichts.