Darko @ alle Fotos: «Tante Martha»

Erwartungsvoll steige ich in den Zug nach Biel. Am Bahnhof angekommen, geht es weiter mit dem Bus nach Romont/BE. Endstation! Von hier aus sind es wenige Gehminuten an einen Ort, der mich ab der ersten Sekunde in seinen Bann zieht.

Ein Sprichwort sagt: «Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.» Der Lebenshof «Tante Martha» ist eine Lebensschule der Extraklasse. Pünktlich wie vereinbart öffnet Hofbesitzerin Irina Hauswirth das Tor, und der Unterricht beginnt:

Irina, in welchem Zustand kommen die Tiere auf den Hof?

Es ist ein Lebenshof für Tiere aus beziehungsweise in Notsituationen, die hier bei uns ihren Frieden finden. Die Leidensgeschichte der «Bewohner» reicht von angefahrenen, angeschossenen bis hin zu traumatisierten Lebewesen verschiedenster Art. Ebenso sind Tiere darunter, die dem Schlachter in letzter Sekunde von der Klinge sprangen.

Du hast sicherlich zahlreiche Beispiele?

Ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll. Das ehemalig ausgezeichnete Schweizer Zuchtsportspringpferd Gervanta beispielsweise konnte sich anfangs kaum auf den Beinen halten. Die Stute kam körperlich und psychisch traumatisiert auf unseren Lebenshof. Ich habe sie aufgepeppt und ihr wieder Leben eingehaucht.

Foto von Irina Hauswirth mit Schwein Pigna
Irina © alle Fotos: «Tante Martha»

Pigna, unser Schwein, haben wir kurz vor dem Erstickungstod aus der Jauchegrube gezogen. Figaro und Anton, die beiden Ochsen, stammen aus einem Tierlabor. An ihnen wurden zahlreiche Tierversuche durchgeführt. Figaro ist bei seiner Ankunft auf dem Hof regelrecht in Ohnmacht gefallen.

Neben psychisch traumatisierten Tieren finden auch körperlich beeinträchtigte Tiere den Weg auf den Hof.

Einer der Hunde hat nur drei Beine. Wir haben ihn übernommen. Mit abgetrenntem Bein lag der Hund verkrüppelt, sich und seinem Schicksal überlassen, im Müllcontainer. Pepito kam über eine Tierschutzfreundin in die Schweiz und wurde uns übergeben.

Die meisten Hühner sind Fabrikhühner. Sie werden zu Ausstallungshühnern, die nach 12 bis 15 Monaten «entsorgt» werden, weil sie nicht mehr genügend Eier legen. Sie kommen teilweise verdreckt mit Entzündungen und teilweise ohne Federn auf den Hof.

Die Leidensgeschichten der Tiere sind teilweise herzzerreissend. Natürlich passieren hier auch positive Dinge.

Wie zum Beispiel …?

Jedes Tier, das wir retten, zahlt es uns mit seiner individuellen Dankbarkeit zurück. Nach den Schockerlebnissen, die die Tiere durchleben mussten, merken sie hier, dass sie in Frieden weiterleben dürfen. Darüber hinaus freue ich mich über jedes Tier, das ich weitervermitteln kann.

Woher bezieht ihr die Tiere?

Wir sind sehr gut vernetzt. Die Tiere gelangen durch die Zusammenarbeit mit dem Veterinäramt, verschiedenen Tierärzten, Tierschutzorganisationen oder Privatpersonen auf den Lebenshof. Wir ermöglichen den Tieren nicht nur ein artgerechtes Miteinander, sondern vermitteln sie im Rahmen unserer Möglichkeiten auch an dafür geeignete Endplätze. Mir ist es eine Herzensangelegenheit, dass es den Tieren auch ausserhalb unseres Hofes gut geht und es ihnen an nichts fehlt.

Weshalb heisst der Hof «Tante Martha»?

Meine Tante Martha war eine ganz besondere Frau. Ein Mensch mit dem Herz am richtigen Fleck. Sie erblickte im Jahr 1911 das Licht der Welt. Sie war eine Frau, die das wenige, dass sie hatte, barmherzig teilte. Während des Krieges hat meine Grosstante Bahnarbeiter und die Insassen der Gefangenentransporte, die zu der Zeit zahlreich durch Olten fuhren, mit Essen versorgt, heimlich versteht sich. Martha war ein Mensch, bei dem andere jederzeit willkommen waren und für die sie einstand.

Wie kamt ihr auf die Idee, solch einen Hof zu betreiben?

Tiere in beziehungsweise aus Notsituationen betreuen wir seit über 15 Jahren. Einen Lebenshof ins Leben zu rufen und auf die Beine zu stellen, war ursprünglich nicht geplant. Vielmehr hatte es sich so ergeben. Unsere Freundin Schwester Theresia motivierte und unterstützte uns tatkräftig. Sie kenne ich von der Tierschutzstelle «Felsentor». Durch den Zuspruch Schwester Theresias begannen wir die Arbeit mit den Tieren. Im Jahr 2013 zogen wir als Familie mit einigen unserer Tiere auf den heutigen Lebenshof, der zuvor als Hirschfarm gedient hatte.

Wie sieht dein Arbeitsalltag aus?

Bei «Tante Martha» handelt es sich um einen Hof voller Leben. Die Uhr müssen wir nicht stellen. Das Krähen des Hahns läutet den Arbeitstag ein. Dieser zieht sich bis zu 18 Stunden hin. Zweimal täglich bekommen unsere Tiere vitaminisierte Mischungen aus verschiedenen Körnern und Mais. Damit erhalten sie alles, was sie brauchen. Das Heu, das wir den Tieren ganztägig geben, beziehen wir von Landwirten aus der Region. Ob Pferde, Ochsen, Ziegen, Schafe, Alpakas, Hühner, Truthähne, Tauben, Katzen, Hunde, Dachse, Füchse, Wildvögel oder Eichhörnchen, jedes Tier ist willkommen. Hier führen wir die Philosophie von Tante Martha fort. Uns ist es wichtig, den Tieren ein festes und gesichertes Zuhause zu bieten, indem sie sich artgerecht entfalten können.

Wie beschreibst du die wichtige Bindung zu euren Tieren?

Ob Fridolin das Schaf, Pigna das Schwein, Anton der Ochse oder Gervanta das Pferd: Ich kenne ihre Eigenheiten. Mir liegt das sehr am Herzen und ich mache keinen Unterschied dabei, Betroffene – ob Mensch oder Tier – in Frieden und Geborgenheit gehen zu lassen. Indem ich den Prozess begleite, leide ich nicht beim Tod eines geliebten Menschen oder eines der Tiere. Klar durchlaufe ich eine Trauerphase und denke an jeden Menschen und jedes Tier, aber für mich ist es eine Art des in Würde Loslassens.

Wie geschieht das?

Wenn beispielsweise ein Huhn stirbt, kommt es für 24 Stunden in ein Leichentuch, bevor es begraben wird. Schliesslich ist nicht nur die Würde des Menschen unantastbar.

Erinnerst du dich an eine Bestattungszeremonie aus der Tierwelt?

Als Valencia, unser Schaf, auf unseren Hof kam, war sie trächtig. Davon wussten wir nichts. Das Lamm ist bei der Geburt gestorben. Damit sich das Tier von ihrem «Lamm» verabschieden konnte, liess ich es neben ihr im Stall liegen. Als ich wiederkam, um nach den Tieren zu sehen, hatten die restlichen Schafe ein Loch ins Stroh gegraben, in dem das Lamm lag und waren gerade dabei, es mit Stroh zu bedecken. Die Tiere lehren uns die Naturgesetze. Viele Menschen hingegen haben meiner Meinung nach den Bezug zu Himmel und Erde verloren.

Ist es bei einer derartigen Bindung überhaupt möglich, Ferien zu machen?

Die Tiere sind wie meine eigenen Kinder. Es braucht grosses Vertrauen, den Hof «aus der Hand zu geben.» Zwar kennen unsere Kinder und Helfer die Tiere und Abläufe, aber mein Mann und ich verlassen den Hof nur selten und wenn, dann bin ich in Gedanken immer bei meinen Tieren.

Wie bekommt ihr Hof und Privatleben unter einen Hut?

Mein Mann Darko, die Kinder Marylou und Penelope sowie zahlreiche Helfer unterstützen mich tatkräftig. Ohne sie ist die Arbeit auf dem Hof kaum zu bewältigen. Arbeitsteilung und Disziplin gehen Hand in Hand, um den Anforderungen gerecht zu werden. Eines meiner Kinder befindet sich derzeit im Home Schooling, Darko hat einen Brotjob als IT-Fachmann im Homeoffice. Zudem macht sich der Haushalt nicht von alleine.

@ alle Fotos: «Tante Martha»

Hat dich die Arbeit mit den Tieren verändert?

Die Arbeit mit den Tieren hat mich gelehrt, meine Belastungsgrenzen auszuloten und mir Energie-Oasen zu schaffen. Darko spaziert gerne in der Natur oder läuft durch den Wald. Ich finde Kraft bei meinen Tieren oder meditiere. Ruhepausen sind mir wichtig und die nehme ich mir auch.

Du hast ein breites Fachwissen. Woher kommt das?

Ich habe einen sozialen Beruf erlernt. Selten muss ich auf die Hilfe eines Tierarztes zurückgreifen. Durch Kurse, aber auch durch meine breite Wahrnehmung, spüre ich die Tiere und weiss meistens genau, an was es ihnen fehlt. Nicht nur wir haben mit der Zeit gelernt, unsere Tiere zu «lesen», auch sie riechen, fühlen und schmecken, wie es uns Menschen geht. Ich bin davon überzeugt, dass die Redewendung: «Sich nicht riechen können» aus der Tierwelt überliefert ist.

«Tante Martha» ist nicht nur ein Lebenshof?

Nein, «Tante Martha» ist nicht nur ein Lebenshof für Tiere, sondern auch ein Begegnungsort für Menschen, die es nicht leicht im Leben haben und für solche, die mit anpacken wollen.

Wie macht sich das bemerkbar?

Besucher, die beispielsweise an Helfertagen mit anpacken, durchleben eine regelrechte Transformation. So berichten sie oft nach ihrem Aufenthalt von ihrer Ernährungsumstellung sowie einer positiveren Einstellung zu Tier und Leben. Das freut mich natürlich. Uns geht es aber nicht darum, die Menschen zu missionieren. Die Veränderungen, die sie durchmachen, kommen von innen. Ich glaube fest daran, dass die Tiere einen wichtigen Teil dazu beitragen.

Für andere ist der Besuch auf dem Hof eine Therapieform. Bei derartigen Besuchern werden wir von einer Psychologin unterstützt.

Wie finanziert sich der Lebenshof?

«Tante Martha» ist ein steuerbefreiter Verein, für den jeder Rappen zählt. Partnerschaften zu einem oder mehreren Tieren, eine freiwillige Spende sowie Stiftungsgelder halten den Hof am Leben. Auch Darkos Einkommen fliesst grösstenteils in den Hof.

Für helfende Hände tischen wir anschliessend etwas auf, sitzen gemütlich zusammen und tauschen uns aus. Jeder, der kommt, ist herzlich willkommen.

Was wünscht ihr euch für die Zukunft?

Dieses Thema ist ein Fass ohne Boden. Rein aus dem globalen Blickwinkel betrachtet, ist das, was wir hier machen, nicht nachhaltig. Das hat meiner Meinung nach verschiedene Gründe. Vor allem im Sommer wird das Wasser knapp. Weil wir auf dem Hof keine Nutztiere haben, werden wir regelmässig dazu aufgefordert, unseren Tieren nicht zu viel Wasser zu geben. Zudem sind wir abhängig von Bauern, die uns beispielsweise das Heu liefern. Meiner Meinung nach werden Weide- und Grünflächen immer weniger. Unser Ziel wäre es, im Notfall unsere Tiere selbstversorgend zu ernähren, wobei wir auf grüne Energie zurückgreifen können. Schon seit Längerem haben wir unsere Fühler nach mehr Land ausgestreckt. Geeignetes zu finden, ist aber in der Schweiz fast nicht möglich. Wenn alle Dämme brechen, werden wir wohl auswandern müssen.

 

Es ist kurz nach 18 Uhr, als ich mich mit meinem Rucksack voller Eindrücke auf den Heimweg mache. Gleichzeitig weiss ich, dass ich wieder kommen werde. Ich will mit anpacken. Dieser Besuch hat nicht nur Spuren hinterlassen, sondern bekräftigt meine Überzeugung darin, dass Profit nicht alles ist im Leben. Neben der Gesundheit des Geistes ist ein harmonisches Miteinander für mich vordergründig. Dies hat mich der Hof voller Leben gelehrt. Mein Entschluss steht fest: Ich werde eine Patenschaft für eines der Tiere übernehmen. Denn auch die Würde des Tieres ist unantastbar.

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