Diskussionen können mitunter sehr emotional und heftig werden. Das liegt vor allem auch daran, dass die Grenze zwischen Tatsachen und Meinungen oft verloren geht.

Wenige Tatsachen, viele Meinungen

Gerade in den letzten Monaten wurde es wieder offensichtlich. Landauf, landab wird über die Corona-Pandemie diskutiert. «Tatsache ist doch, dass …», sagen die einen, «Tatsache ist doch aber, dass …», sagen die anderen. Wenn ich aber genau hinhöre, komme ich zu folgendem Schluss: Es gibt in Bezug auf die Pandemie viel weniger Tatsachen als Meinungen. Wie gefährlich ist das Virus? Wie ansteckend ist es? Wie effektiv und wie lange wirken die Impfungen? Welche Impfung ist die bessere? Wie schädlich sind allenfalls Impfungen für den Körper oder das ungeborene Kind und dessen Mutter? Wie gefährlich ist es, wenn sich jemand nicht impfen lassen will? Fragen über Fragen.

Und fast alle, die darüber diskutieren, stellen ihre Meinung als eine Tatsache dar. Doch: Wer versteht denn schon wirklich etwas von Viren und Pandemien? Der grösste Teil der Bevölkerung versteht wenig oder gar nichts davon. Man hört oder liest etwas und glaubt es. Anschliessend wird das, was man glaubt, als eine unumstössliche Tatsache verkündet. Immer wieder beginnen die Voten mit: «Es ist doch Tatsache, dass …» Ist es aber wirklich eine Tatsache, dass die neueste Mutation des Virus gefährlicher ist? Ist es eine Tatsache, dass die Impfung gute Wirkungen hat? Ist es wirklich so, dass alle von der Politik getroffenen Massnahmen sinnvoll sind?

Um es vorwegzunehmen, in dieser Diskussion gibt es eigentlich nur wenige Tatsachen: Es gibt das Corona-Virus. Es gibt eine Pandemie. Es gibt Menschen, die daran sterben. Es gibt aber auch Menschen, die den Virus kaum spüren. Es gibt Impfungen. Und es gibt unglaublich grosse Unsicherheiten. Und eine Tatsache ist ebenfalls, dass sich selbst Fachleute – also Virologen, Epidemiologen und Ärzte – bei Weitem nicht in allen Belangen einig sind. Das  Unglaublichste, was ich in den letzten Tagen gehöt habe, war eine Aussage eines hochrangigen deutschen Politikers. Er sagte folgendes: «Bis Frühling 2022 werden wir nur noch 2G haben. Entweder geimpft oder gestorben.» Und dann gibt es doch tatsächlich Menschen, die so etwas Unerhörtes als eine Tatsache entgegennehmen …

Warum ich das erwähne? Ich möchte in diesem Text nicht das Thema «Corona» behandeln. Ich erwähne das nur deswegen, weil mir immer wieder auffällt, wie wir bei irgendwelchen Diskussionen unsere Meinungen als Tatsachen verkaufen. Könnte es sein, dass deswegen viele Konflikte überhaupt erst entstehen? Könnte es sein, dass wir friedlicher miteinander leben könnten, wenn wir jeweils deutlicher unterscheiden würden, was eine Tatsache und was eine Meinung ist? Auf einem Kalenderblatt habe ich einmal folgenden Spruch gelesen: «Wenn du meinst, dass irgendeine Sache falsch ist, heisst das nicht, dass diese Sache falsch ist. Es heisst nur, dass du meinst, dass diese Sache falsch ist.»

Unsere Welt steht vor dem Abgrund

Kürzlich sass ich mit ein paar guten Bekannten zusammen. Je länger der Abend, desto leerer waren die Weinflaschen. Das ist zwar schön und auch gemütlich, manchmal aber auch ein wenig heikel; vor allem, wenn zu später Stunde irgendjemand grundsätzliche, philosophische Fragen aufwirft und sich daraus eine tiefgründige Diskussion entwickelt.

Tja, wie gut beziehungsweise schlecht steht es um unsere Welt? Das war plötzlich die Frage und wir gerieten uns beinahe in die Haare. Die einen fanden, dass die politische, klimatologische, gesellschaftliche und auch wirtschaftliche Situation unserer Welt absolut  besorgniserregend sei, andere sahen das viel lockerer und verbreiteten Zuversicht. «Du musst das einfach realistisch sehen», meinte schliesslich ein Diskussions­teilnehmer zu mir. Ich provozierte ihn mit der Frage, ob er mir sagen könne, was die Realität sei und ob er seine persönliche Meinung auch wirklich davon trennen könne. Ups, das hätte ich vielleicht besser nicht sagen sollen … Er geriet ausser sich und verteidigte seine Meinung, die er als unumstössliche und absolute Realität darstellte, hartnäckig und konsequent.

«Schliesslich beendete ich die Diskussion mit der Bemerkung, dass es eine Tatsache sei, dass ich jetzt keine Lust mehr auf philosophische Exkurse habe und schlafen gehen wolle.»
Albin Rohrer

Viele Realitäten

Die Diskussion um den Zustand der Welt sowie die Frage nach der Trennung von Tatsachen und Meinungen beschäftigte mich aber doch noch einige Zeit. Ein paar Tage später sass ich in einem Restaurant am hintersten Tisch in der Ecke. Dort hatte ich erstens meine Ruhe und zweitens einen wunderbaren Überblick über das Geschehen.

Mit meiner Ruhe war es aber schnell vorbei. Ein betagter Mann, ich schätze ihn mindestens 85-jährig, setzte sich an «meinen» Tisch, bestellte einen Kaffee und blickte mich erwartungsvoll an. Es schien, als ob er Lust auf eine Diskussion gehabt hätte, nahm dann aber doch zuerst die Zeitung in die Hand, blätterte einen Moment darin, nahm einen Schluck Kaffee, atmete tief aus und sagte: «Eigentlich spielt es ja keine Rolle, wer im Bundesrat ist, würde man diesen nämlich austauschen, kämen sicher keine Besseren nach.» Nun: Tatsache ist, dass sich dieser Mann über den Bundesrat beschwert hat. Und meine Meinung dazu? Was soll ich dazu sagen?

«Hm …», sagte ich nur und wich damit einer Diskussion aus. Dazu hatte ich nämlich keine Lust. Vielmehr war ich der Meinung, dass diese Diskussion in einer Sackgasse geendet hätte. Ich hätte diesem wohl etwas verbitterten Herrn auf den Unterschied zwischen Tatsachen und Meinungen aufmerksam machen müssen. Er hätte dies ganz bestimmt nicht hören wollen.

Penalty oder nicht?

Am Nebentisch sassen Bauarbeiter beim Znüni. Sie diskutierten heftig über das gestrige Fussballspiel. Ich konnte der Diskussion nicht ganz folgen, doch in Anbetracht des Umstandes, dass sie teilweise wild gestikulierten, war anzunehmen, dass sie sich nicht ganz einig waren. Was war wohl ihre Sicht der Dinge? Tatsache ist, dass der Schiedsrichter einen Penalty gepfiffen hatte. Und Meinungen zu diesem Entscheid gab es offenbar viele. Da fiel mir doch gerade ein, dass es vor vielen, vielen Jahren einmal eine Fernsehsendung mit dem Titel «Tatsachen und Meinungen» gab. Da wurde jeweils eine politische oder gesellschaftliche Tatsache präsentiert und unterschiedliche Diskussionsteilnehmer äusserten ihre Meinung dazu.

«Das fand ich jeweils höchst interessant, weil wir ja tatsächlich zu jeder Situation – je nach Standpunkt – eine unterschiedliche Meinung haben können und auch haben dürfen. Was wir aber meines Erachtens nicht sollten, ist es, unsere eigene Meinung zur Tatsache zu machen. Meinungen können sich im Laufe der Zeit ändern, nicht aber Tatsachen.»
Albin Rohrer

Jedenfalls habe ich das bei mir schon festgestellt … Einen Moment lang beobachtete ich noch alle Gäste im Restaurant und stellte mir die Frage, wie viele unterschiedliche Meinungen geäussert werden würden, wenn ich allen die genau gleiche Frage zu einer Tatsache stellen würde.

Und noch etwas

Nun habe ich einen Text zum Thema «Tatsachen und Meinungen» geschrieben. Das ist eine unumstössliche Tatsache. Ob dieser Text gut oder schlecht ist, das wäre dann wieder eine Meinung.