20. Dezember 2019

Traum und Wirklichkeit

Traum und Wirklichkeit
Lesezeit ca. 8 min

Der hypnotische Trancezustand, ein völlig natürlicher Zustand erhöhter geistiger Regsamkeit, vermag das Leben zu verändern.

Ein Fallbeispiel

Als Pierre* erfuhr, dass einer seiner Weisheitszähne von entzündetem Zahnfleisch umgeben ist und beides unbedingt entfernt werden müsse, bekam er panische Angst vor dem invasiven Eingriff und verschob ihn um mehrere Wochen. Letztlich entschloss er sich doch zur Operation, wobei ihm ein befreundeter Krankenpfleger dazu riet, zunächst einen Hypnosetherapeuten aufzusuchen. «Viermal war ich beim Therapeuten und habe gelernt, mich in den Zustand der Hypnose zu versetzen», erzählt Pierre. «Ich habe dies dann all die Tage vor dem Eingriff gemacht. Schliesslich war mein Vertrauen grösser als die Angst. Am Tag der Operation bin ich ganz entspannt in der Zahnarztpraxis angekommen. Ich hatte den schlechten Stress überwunden. Der Eingriff löst im Nachhinein keine unangenehmen Gefühle aus …»

Zumindest fast keine: Zehn Tage nach dem Eingriff schlug ihm zufällig jemand mit dem Ellenbogen auf die Operationsstelle. Er spürte sofort einen stechenden Schmerz und die Backe schwoll an. «Am folgenden Tag war sie doppelt so dick. Reden konnte ich noch, aber den Mund nicht mehr richtig aufmachen, um zu essen. Also habe ich mich wieder in den Zustand der Hypnose versetzt. Nach vier Tagen mit den Hypnoseübungen ging die Schwellung zurück, auch der Schmerz nahm ab und verschwand schliesslich vollständig. Die zwei starken Schmerztabletten, die mir der Zahnarzt für alle Fälle verschrieben hatte, habe ich gar nie eingenommen …»

Hypnose gegen Ängste und Schmerzen

Die medizinische Hypnose wird seit zwei Jahrhunderten eingesetzt, vor allem gegen Ängste und Schmerzen. In der Westschweiz ist sie zurzeit sehr gefragt. Das Institut Romand d’Hypnose Suisse (IRHyS) bildet seit rund fünfzehn Jahren Ärzte, Pflegepersonal, Zahnärztinnen, Psychologen und andere Gesundheitsfachleute in dieser Technik aus.

Laut dem in Martigny (Wallis) beheimateten Institut lässt sich dank der Hypnose die Wahrnehmung eines Symptoms sowie einer ganzen Reihe von Leiden – von Allergien über neuropathische Schmerzen bis hin zu Zahnproblemen, Magersucht, Bulimie und Suchtverhalten – verändern. Bestimmte Formen von Depression, Nebenwirkungen von Chemo- oder Radiotherapien, Hauterkrankungen, Stress- und Schmerzzustände reagieren ebenfalls auf diesen Ansatz.

Hypnose in der Chirurgie

Hypnose hat sogar im Operationssaal ihre Berechtigung. In Ergänzung zur Anästhesie (Hypnoanästhesie) trägt sie bei Patienten, die zuvor einige Hypnosesitzungen absolviert haben, zu weniger schmerzhaften, also weniger traumatischen chirurgischen Eingriffen bei. Es kommt dann zu weniger oder gar keinen Komplikationen. Patienten, die auf die anästhesierenden Mittel allergisch sein können oder ganz einfach Angst haben, nicht wieder aufzuwachen, können sich dank der Hypnose vertrauensvoll in die Hände des Chirurgen geben.

Die Patienten profitieren nicht zuletzt auch vom zurückhaltenden Einsatz der synthetischen Anästhetika. Dies wirkt sich insofern auf die Kosten aus, als diese steigen, je länger sich ein Patient im Aufwachraum befindet. «Vergleicht man die Erfahrungsberichte von Patienten, die eine Narkose ohne Hypnosebegleitung bekamen mit jenen, die hypnotisiert wurden, zeigt sich klar, dass sich Letztere besser und schneller vom Eingriff erholen», erläutert in seiner E-Mail-Nachricht Professor Eric Bonvin, Direktor des Spitals Wallis und Autor zahlreicher Bücher über die medizinische Hypnose.

Was ist Hypnose?

Was ist Hypnose genau? «Sie hat auf jeden Fall nichts mit dem auf Jahrmärkten gebotenen Phänomen zu tun», sagt dazu die Psychologin Alexandra Mella, die das IRHyS leitet. «Die von uns praktizierte Hypnose führt zu einem natürlichen Trancezustand mit verändertem Bewusstsein. Wir alle erleben täglich und spontan solche hypnotischen Trancezustände. Beim Autofahren beispielsweise ist man manchmal erstaunt, dass man schon am Ziel ist, weil man unterwegs mikrosekundenlang so stark auf die Aufmerksamkeit konzentriert war. Ähnlich ist es, wenn man beiläufig etwas macht und doch nicht ganz bei der Sache ist. Es geht um einen veränderten Bewusstseinszustand.»

Für Professor Bonvin ist Hypnose ein Zustand, in dem man in Beschlag genommen wird oder in einen Traumzustand gehüllt ist. Für die Betroffenen geht es darum, das Erleben ihrer Krankheit oder deren Symptome «besser zu erleben»:

«Hypnose wird nicht gegen Schmerz oder Angst verordnet; sie ist vielmehr eine Hilfe für all jene, die sich nur ungern Erfahrungen wie Schmerz oder Angst stellen. Im medizinischen Umfeld geht es darum, dass die Patientin oder der Patient genügend Vertrauen und Sicherheit empfindet, um einen Eingriff zuzulassen, von dem letztlich eine Linderung erwartet wird.»
Professor Eric Bonvin
Direktor des Spitals Wallis und Autor

Die medizinische Hypnose steht nicht zuletzt für die Allianz zwischen dem Patienten und dem wohlwollenden Therapeuten. Im oberflächlichen Trancezustand, der einem Schlafzustand ähnelt, verwischen durch Suggestion vonseiten des Therapeuten die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit. Der Patient bleibt während der ganzen Sitzung bei vollem Bewusstsein und erinnert sich immer an alles, wenn er den hypnotischen Zustand verlässt:

«Hypnose ist ein Wachzustand, der es dem Patienten durch die konzentrierte Aufmerksamkeit ermöglicht, Empfindungen und Verhalten längerfristig zu beeinflussen.»
Alexandra Mella
Psychologin, Institut Romand d’Hypnose Suisse (IRHyS)

Empfindungen verändern

«In seiner Beziehung zum Therapeuten bleibt der Patient denn auch immer Herr seiner Handlungen und seines Verhaltens. Er entscheidet, ob er die Erfahrung erleben will oder nicht», ergänzt die Psychologin Alexandra Mella.

Bild einer Frau während einer Hypnosetherapiesitzung

Während der Sitzung führt der Therapeut den Patienten in einen Entspannungszustand und hilft ihm dann mit suggestiven Vorschlägen, die Wahrnehmung seiner Empfindungen zu verändern. Bei Suchtverhalten zum Beispiel kann der Therapeut dem Patienten, der mit dem Rauchen aufhören möchte, eingeben, Zigaretten seien unnütz und seinem Körper ginge es besser ohne. Bei Schmerzen oder Angst lernt der Patient unter Beobachtung seines Therapeuten, die Wahrnehmung der Schmerzen zu verändern. «Es geht letztlich um Empfindungen. Die Patientin macht sie sich zu eigen und hält sie vor allem danach fest. Das ist das Ziel der Sitzung», erläutert die Psychologin Alexandra Mella. «So kann der Schmerz nach wie vor da sein, aber die Empfindung der Patientin ändert sich und sie fühlt den Schmerz nicht mehr gleich wie vorher. Es kann sogar sein, dass er ganz verschwindet.»

Haben die Patienten damit ihre Krankheit besser im Griff? «Wenn sie besser mit ihrer Krankheit, den Symptomen und der Behandlung fertig werden können, haben sie sie besser unter Kontrolle. Und sie können selbst therapeutisch aktiv werden. Sie benötigen weniger Medikamente, damit die empfundenen Symptome sie weniger belasten.»

Hypnose in der Psychologie

In der Psychiatrie wird Hypnose seit Jahrzehnten bei bestimmten Störungen eingesetzt. Sie ist ein probates Mittel, um einen Patienten von einem traumatischen Ereignis zu befreien, das ihm das Leben schwer macht.

«Hypnose ist wie ein emotionaler Balsam auf eine offen gebliebene Wunde.»
Bernard Jouvel
Hypnosetherapeut, Hypnosezentrum Lausanne

Als Therapie hat sie nichts Magisches und kann einen Arztbesuch nicht ersetzen. Bei manchen schweren psychischen Störungen wie Psychosen oder schweren Schizophrenien ist von hypnotischen Trancezuständen abzusehen.

Selbsthypnose

Bei Musikern und Sportlern sehr beliebt ist die Selbsthypnose, weil sie sich damit vor einem Wettkampf oder einem Konzert besser konzentrieren und entspannen können. Dieses natürliche Vorgehen lässt uns Meister der Lage bleiben, um Ängste zu überwinden oder ein negatives Verhaltensmuster zu durchbrechen: «Hypnose als Alltagsritual wird zur Kunst, sich vertrauensvoll dem eigenen Leben hinzugeben», erklärt Professor Bonvin.

Und Pierre, der sich jeden Tag für eine gewisse Zeit in den Trancezustand versetzt, sagt: «Die Selbsthypnose hat mein Leben verändert. Ich habe viel über mich selbst gelernt und bin stärker geworden. Ich habe entschieden mehr Selbstvertrauen gewonnen.»

* Name von der Redaktion geändert