Manche Menschen fühlen sich im Alter an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Doch sie haben wertvolle Beiträge an diese zu leisten.
Elfriede Sager (Name geändert) hat keinen grossen Spass mehr am Leben. Ihr zweiter Mann starb vor achtzehn Monaten im Alter von 78 Jahren an Herzversagen. In seinen letzten Lebensjahren war er auf Unterstützung angewiesen, die ihm seine Frau zukommen liess. Speziell fürs An- und Auskleiden sowie für die Körperpflege benötigte er Hilfe. Elfriede Sagers Ehemann war gebrechlich und daher unsicher auf den Beinen, in der Wohnung war er mit dem Rollator unterwegs.
Mit dem zunehmenden Verlust seiner Kräfte und seiner Selbstständigkeit hatte er grosse Mühe. Er war einst ein erfolgreicher Sportschütze und hatte beruflich eine gute Stelle in der Versicherungsbranche inne. Durch grossen Fleiss und Ehrgeiz hatte er sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet. Nach einem Schlaganfall mit 72 Jahren war alles anders. Von anderen abhängig zu sein, fiel ihm schwer. Zudem war sein Lebensradius auf die Wohnung und deren Umgebung beschränkt. Deswegen war Elfriede Sagers Mann oft missgelaunt. Seine Frau ertrug seine schlechte Stimmung klaglos. Sie wusste, dass er ihr dank seines guten Einkommens einen komfortablen Lebensstandard ermöglichte.
Die 69-Jährige hat grosse Mühe, nach dem Verlust ihres Mannes im Alltag wieder Tritt zu fassen. Auch wenn zuvor dessen Betreuung und Pflege nicht immer leicht waren, so hatte sie damit eine Aufgabe. Von Kind an war sie gewöhnt, Hand anzulegen, wo sie gebraucht wurde. Ein Leben ohne Arbeit konnte sie sich nicht vorstellen. Viele Jahre war sie im Reinigungsdienst eines Spitals tätig gewesen, sie hatte sich daneben um ihre Kinder und den Haushalt gekümmert. Nach dem Tod ihres Ehepartners nicht mehr für jemanden sorgen zu können, fällt ihr schwer. Die menschenleere Wohnung deprimiert sie. Sie ist gemäss ihrem Naturell eine sehr gesellige Person, die Menschen um sich braucht wie die Luft zum Atmen. Nun fühlt sie sich sehr isoliert. Ihre Kinder und ihre beinahe erwachsenen Enkel sind in ihrem eigenen Leben eingespannt, für die Mutter beziehungsweise für die Oma bleibt da nicht mehr viel Zeit übrig.
Viele Menschen stehen im dritten Lebensabschnitt vor einer ähnlichen Herausforderung wie Elfriede Sager: Sie müssen ihrem Leben und ihrem Alltag neue Inhalte geben und auch ein neues Beziehungsnetz knüpfen. Dies gilt insbesondere für verwitwete und für geschiedene Personen, die Scheidungsrate im Alter ist in den letzten Jahren im Steigen begriffen.
Kontaktarmut sollte möglichst begegnet werden, sie untergräbt die psychische und die körperliche Gesundheit.
Einsamkeit führt zudem zu einer gedrückten Stimmung und fördert Ängste und Selbstzweifel. Hält die Einsamkeit lange an, können auch Gefühle von innerer Leere und von Sinnlosigkeit des eigenen Daseins auftreten. Mit anderen Personen in Beziehung zu stehen und Anforderungen zu bewältigen, gehört zu den Grundbedürfnissen der menschlichen Natur.
Der Geist will zielgerichtet denken. Wenn es für ihn keine Aufgaben gibt, die ihn fordern, sind zermürbende Grübeleien eine mögliche Folge. Ob der missmutigen Stimmung kann es zu Meinungsverschiedenheiten mit der Partnerin, dem Partner oder mit Angehörigen kommen. «Müssiggang ist aller Laster Anfang», besagt eine Redensart. Über sieben Prozent der Menschen in der Schweiz über 65 Jahren trinken regelmässig Alkohol in ungesunden Mengen. In Verbindung mit Medikamenten kann Alkohol eine besonders heimtückische Wirkung entfalten. Nicht nur das Unfallrisiko steigt, es kann auch leichter zu Streitigkeiten kommen. Hinter dem zu hohen Alkoholkonsum steckt gelegentlich eine Altersdepression, die ihrerseits die Passivität fördert. Damit steigt auch das Demenzrisiko.
Eine Aufgabe im Alltag ist für das körperliche und das psychische Wohlbefinden wichtig. Dabei ist es nicht entscheidend, ob Rasen gemäht, Konfitüre eingemacht, für bedürftige Menschen Socken gestrickt, für Bekannte Steuererklärungen ausgefüllt, in einem Naturschutzprojekt mitgearbeitet, in einem Museum Aufsicht geleistet oder mit dem Mahlzeitendienst Essen ausgeliefert wird. Im Vordergrund steht die Aufgabe, die dem Alltag Inhalt und Struktur gibt. Trotz Zuckerkrankheit, Bluthochdruck, künstlichem Hüftgelenk oder anderen chronischen Leiden können viele Menschen durch den medizinischen Fortschritt bis ins hohe Alter aktiv bleiben. Allerdings gilt es, eine neue Balance zwischen Aktivität und Erholung zu entwickeln.
In der modernen Arbeitswelt ist Effizienz eines der obersten Gebote, getreu dem Motto: «Zeit ist Geld.» Nach der Pensionierung muss der/die Betroffene ein neues Verhältnis zur Leistung entwickeln. Er/sie muss niemandem mehr etwas beweisen und hat in den Jahren zuvor eine beachtliche Lebensleistung erbracht. Nun ist der/die Pensionär*in nicht mehr für das Einkommen und die Karriere tätig, für den Lebensunterhalt sorgen die Rentenüberweisungen.
Im Alter gilt das Motto, wonach Zeit Geld ist, nicht mehr, der/die Ruheständler* in kann sich Zeit lassen und öfters eine Pause einlegen oder kurzfristig die Pläne ändern: Wenn das schöne Wetter zu einem Spaziergang verlockt, kann das Bepflanzen der Balkonkistchen oder das Fensterputzen auf den folgenden Tag verschoben werden. Kein Vorgesetzter gibt mehr Anweisungen und schreibt die Arbeitszeiten vor.
Die Motivation für Tätigkeiten wandelt sich, der/die Pensionär*in arbeitet aus inneren Bedürfnissen heraus, etwa aus Liebe zum Garten, aus Freude am Renovieren sowie aus Solidarität zu den Nachbarn, die um Handreichungen froh sind. Nicht der entsprechende Lohn ist die Antriebsfeder, sondern die Aufgabe, die erfüllt werden will. Die Veränderung zu den Zeiten des vorherigen Erwerbslebens kann eine neue Erfahrung bedeuten, die Musse bekommt im Alter eine erhöhte Bedeutung. Der/die Rentner*in kann den schönen Augenblick und die Geselligkeit intensiver geniessen.
Die Gesellschaft stellt hohe Leistungsfähigkeit in den Fokus: Die Medien zelebrieren Spitzensportler*innen, Sieger*innen von Gesangswettbewerben sowie attraktive Schauspieler*innen. Dies vermittelt ein verzerrtes Bild, wonach vor allem junge erfolgreiche Menschen grosse Aufmerksamkeit und Anerkennung verdienen.
Rund 1,6 Millionen Menschen in der Schweiz sind über 65 Jahre alt. Viele von ihnen engagieren sich beispielsweise ehrenamtlich in Kirchgemeinden, im Quartierverein, in Kulturorganisationen, sie leiten Altersturngruppen oder organisieren Wandertage für Senioren und Seniorinnen.
Zudem kümmern sie sich grösstenteils um ihre Enkel*innen. Die Eltern ihrerseits können in dieser Zeit Weiterbildungskurse besuchen, arbeiten oder auch mal ungestört Freunde treffen. Grosseltern besuchen mit den Enkelkindern das Schwimmbad und lehren ihnen das Schwimmen, bringen ihnen das Velofahren bei und helfen ihnen bei den Hausaufgaben. In einer Untersuchung gaben Kinder an, nach ihren Eltern seien ihre Grosseltern die liebsten Menschen. Sie sind in den Augen der Kinder oft geduldiger, toleranter, grosszügiger und humorvoller als die eigenen Eltern. Und wenn bei den Grosseltern der Körper infolge Arthrose, Kreislaufproblemen oder Kurzatmigkeit keine grossen Ausflüge mehr zulässt, so bleiben Kurznachrichten (SMS), WhatsApp und Videotelefonie, um zwischen den Generationen den Kontakt zu pflegen. Damit bleiben Oma und Opa bis ins hohe Alter wichtige moralische Stützen und Gesprächspartner für die Kinder.