24. Februar 2022

Verliebtsein – gibt es etwas Schöneres?

Verliebtsein – gibt es etwas Schöneres?
Lesezeit ca. 8 min

Wenn sich unser Verhalten von einem Tag auf den anderen komplett verändert und plötzlich nichts mehr so ist, wie es war, dann könnte es sein, dass wir verliebt sind …

Verliebtheit bei ihm

Der 35-jährige Sandro, normalerweise eher ein introvertierter und zurückhaltender Zeitgenosse, telefoniert schon seit Stunden mit sämtlichen Kollegen und schildert ihnen in den höchsten Tönen, welch traumhafte Person Daniela sei. Sandro, der Prototyp eines Kulturbanausen: Nie zuvor hat er ein Gedicht gelesen, geschweige denn geschrieben. Wie durch ein Wunder entdeckt er seine literarisch-kreativen Fähigkeiten und schreibt fast alle halbe Stunde eine SMS. Beispielsweise solche wie diese: «Du bist meine Sonne, mein Mond und meine Sterne, Du bist mein Lebenselixier, ich habe Dich gerne.»

Vorgestern, als er Daniela das erste Mal sah und mit ihr unverhofft in Kontakt trat, mauserte er sich innerhalb von Sekunden vom absoluten Rüpel zum Gentleman. Er rauchte nicht in ihrer Anwesenheit, bestellte das Getränk für sie, half ihr in den Mantel, hielt ihr die Türe auf, führte sie nach Hause. Er hörte ihr zu, machte ihr Komplimente am laufenden Band, war stets besorgt, dass für sie alles stimmt.

Sandro ist verliebt. Am liebsten würde er die ganze Welt umarmen und am nächsten Arbeitstag will er all seinen Arbeitskollegen ein Bier ausgeben. Wie schnell sich doch im Leben alles ändern kann. Die Gefühle, die Emotionen, das Verhalten, die ganze Sichtweise …

Verliebtheit bei ihr

Seit Stunden steht Daniela im Badezimmer vor dem Spiegel und schminkt sich. Immer wieder von neuem: noch raffinierter, noch schöner, noch besser. Dazwischen rennt sie dauernd ins Schlafzimmer und reisst sämtliche Kleider aus dem Schrank. Alle 16 Blusen hat sie jetzt schon an- und wieder ausgezogen. Gleiches gilt für sämtliche Jupes, Röcke und Hosen. Welche Schuhe passen denn am besten? Vor allem aber: Wie soll die Frisur werden?

Daniela trifft heute Abend Sandro. Ihm ist sie vorgestern zum ersten Mal begegnet. Dieses Treffen hat offensichtlich ihr Leben verändert. Wegen des bevorstehenden Treffens war sie gestern beim Friseur und bei der Kosmetikerin. Gesicht, Wimpern, Augenbrauen, Fingernägel, Zehennägel, alles hat sie in Ordnung bringen lassen. Wenn Daniela vom Badezimmer ins Schlafzimmer wechselt, macht sie immer noch einen kleinen Abstecher ins Wohnzimmer. Dort läuft Musik in voller Lautstärke. Sie hüpft und singt und jubiliert. Immer wieder schaut sie auf ihr Natel. Hat sie etwa eine Mitteilung erhalten?

Daniela ist verliebt. Hochgradig und unübersehbar. Heute ist Samstag und Daniela muss nicht arbeiten. Zum Glück, in diesem Zustand nämlich wäre sie dazu auch kaum in der Lage. Im Kopf hat sie nur eines: Sandro. Alles andere ist praktisch nebensächlich. Gegessen hat sie seit gestern Morgen auch kaum mehr etwas. Sie ernährt sich im wahrsten Sinne des Wortes von Luft und Liebe.

Verliebtsein – gibt es etwas Schöneres?

Rational nicht erklärbar

Die Verliebtheit, in der Fachsprache auch «Limerenz» genannt, bedeutet ein sehr starkes Gefühl der Hingezogenheit zu einer anderen Person. Der Zustand der Limerenz ist gekennzeichnet durch ein stetiges, geradezu besessenes Denken an die geliebte Person, die sehnsüchtige Hoffnung auf Erwiderung der Gefühle, die ständige Furcht vor Zurückweisung, das Ausblenden negativer Attribute der geliebten Person. Es ist ein passiver Prozess. Das bedeutet: Man kann sich nicht einfach verlieben wollen. Man kann es sich zwar wünschen, aber man kann es niemals erzwingen. Es geschieht einfach. Das kommt besonders im englischen Wort für «sich verlieben» zum Ausdruck: «to fall in love» (in die Liebe schlittern).

Wie soll man jemandem erklären, was Verliebtheit bedeutet und wie es sich anfühlt? Das ist fast so schwierig, wie jemandem, der noch nie eine Orange gegessen hat, zu erklären, wie eine Orange schmeckt. Das Verliebtsein ist rational, also mit dem Kopf kaum nachvollziehbar. Es ist ein Gefühl. Ein sehr starkes Gefühl sogar. Dieses Gefühl ist gekoppelt an das unbedingte Verlangen nach Zweisamkeit, nach totaler Nähe, kompletter Verschmelzung. Und es ist ein Gefühl, welches auch sehr irritiert.

«Die Verliebtheit mündet in eine Art "Rauschzustand". Die angebetete Person wird meist auch durch die "rosarote Brille" gesehen.»
Albin Rohrer

Er oder sie ist besonders liebenswürdig, aussergewöhnlich hübsch, unglaublich nett, zuvorkommend, einfühlsam. Kurz und gut: makellos und perfekt. Schmerzhaft ist jede Sekunde, die Turteltauben nicht zusammen verbringen können. Unbeschreiblich ist die Sehnsucht und manchmal quält auch die Angst, das Ganze könnte sich bald schon wieder in Luft auflösen. Es entsteht oft eine starke Abhängigkeit («ohne dich könnte ich nie mehr glücklich sein») – ein regelrechter Liebeswahn!

Liebe macht blind

«Liebe macht blind», sagt man im Volksmund. Tatsächlich unterliegen Verliebte nicht selten grossen Täuschungen. Das Gegenüber wird idealisiert und der Verliebte projiziert seine Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte und Träume auf die Person seiner Begierde. Man sieht den anderen nicht so, wie er wirklich ist, sondern so, wie man ihn gerne haben möchte. Je grösser diese Täuschung ist, desto hörter wird es, wenn die Verliebtheit plötzlich vorbei sein sollte.

«Klar ist aber auch, dass Verliebtheit und Liebe nicht ganz das Gleiche sind. Die wahre Liebe macht nicht blind, blind macht die Verliebtheit. Und die Frage, ob aus Verliebtheit wahre Liebe werden kann, ist zu Beginn der Verliebtheit nicht zu beantworten.»
Albin Rohrer

Untersuchungen zeigen, dass die Verliebtheit drei bis sechs Monate andauert. Danach kommt entweder die Liebe oder die Geschichte nimmt ein schmerzhaftes Ende. Schmerzhaft vor allem dann, wenn die Liebesgefühle nur einseitig vorhanden sind.

Was hat die Biologie damit zu tun?

Warum verlieben wir uns exakt in diese Person und nicht in eine andere? Die neuesten Thesen besagen, dass sich der Mensch diesbezüglich vom Geruchssinn leiten lässt. Die unbewusst gestellte Frage lautet: Kann ich mit diesem Mann oder mit dieser Frau Nachwuchs zeugen? Der Fortpflanzungstrieb spielt dabei eine wichtige Rolle. Darin unterscheidet sich der Mensch nur wenig von vielen Tieren. Diese verlieben sich zwar nicht, sind aber bei der Suche nach einem Partner zum Zweck der Fortpflanzung oft auch sehr wählerisch.

Ist jemand verliebt, spürt er das vor allem im Herzen und im Bauch. Doch auch im Kopf ist in solch einem Fall einiges nicht mehr ganz so wie zuvor. Das Gehirn eines Verliebten produziert reichlich Dopamin. Dieses Hormon versetzt uns in die Lage, grosse Anstrengungen auf uns zu nehmen («für dich würde ich barfuss durch die Arktis laufen»), es sorgt dafür, dass wir längere Zeit auf Essen und Trinken verzichten können und schliesslich wirkt es schmerzlindernd. Auch die Produktion von Adrenalin wird gesteigert und sorgt für Aufregung und auch Erregung.

«Das alles führt dazu, dass sich Verliebte zeitweise in einem Zustand von beinahe vollständiger Unzurechnungsfähigkeit befinden. Medizinisch und psychologisch betrachtet sind Verliebte eigentlich krank.»
Albin Rohrer

Die «Krankheit» zeigt sich auch darin, dass Verliebte einen übermässigen Handschweiss haben, dass sich ihr Puls sofort massiv erhöht und Schlafstörungen auftreten. Einigen Stress löst aber auch die Tatsache aus, dass sich die Gedanken im Zustand schwerer Verliebtheit nur noch um diesen einen Menschen drehen. Man kann an fast nichts Anderes mehr denken. Der erste Gedanke am Morgen gehört ihm oder ihr, der letzte Gedanke am Abend sowieso und die meisten Gedanken während des Tages auch.

Verliebtsein – gibt es etwas Schöneres?

Gegenseitige Fixierung

Sind zwei Menschen ineinander verliebt, so ist ihre gegenseitige Anziehung zueinander besonders stark. Das kann sogar so weit gehen, dass beide gleichzeitig zu ihrem Glas greifen, beide gleichzeitig lachen, gleichzeitig die Beine übereinanderschlagen und sich auch in Bezug auf Mimik und Gestik angleichen. Das fühlt sich nahezu paradiesisch an. Die Sehnsucht des Menschen, mit einem anderen Menschen zu verschmelzen, ist bekanntlich ausgesprochen gross.

«Falls Sie schon viele Jahre in einer festen Beziehung sind und sich ein zweites Mal verlieben möchten, denken Sie daran: Sie können sich auch in einen Menschen neu verlieben, den Sie bereits lange kennen.»
Albin Rohrer

Und als kleiner Trost: Verliebtsein ist zwar schön, manchmal aber auch ziemlich anstrengend. Und in der Regel geht es früher oder später wieder vorbei …