Versöhnung mit den Eltern
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Wenn Sie an Ihre Eltern denken – wie geht es Ihnen dabei? Sind Sie innerlich in Frieden mit ihnen? Oder spüren Sie Groll, Missbehagen oder gar Hass gegenüber Ihrer Mutter oder Ihrem Vater oder gegenüber beiden?

Warum wir unseren Eltern nichts schulden

Vielleicht fühlt sich Ihr Verhältnis zur Mutter gut an, aber mit Ihrem Vater haben Sie sich schon immer schwergetan. Oder Sie sind in Dauerkonflikt mit Ihrer Mutter, während Sie Ihren Vater in Ordnung finden. Oder haben Sie gar das Kapitel Eltern komplett abgehakt, weil es insgesamt so belastend ist?

Eines ist klar: Kinder haben um die Beziehung zu ihren Eltern ebenso wenig gebeten wie um ihr Leben. Familie hat man einfach, nur Freundinnen und Freunde kann man sich frei aussuchen. Deshalb kann man die Bindung nicht einfach «kündigen», sie bleibt lebenslang bestehen, in welcher Form auch immer.

Die Schweizer Philosophin, Journalistin und Moderatorin Barbara Bleisch leitet daraus in ihrem Buch «Warum wir unseren Eltern nichts schulden» die These ab, dass es keine sogenannten filialen Pflichten gibt, die wir allein aufgrund des Umstands haben, dass wir die Tochter oder der Sohn von jemandem sind.

Wie wir unsere Eltern sehen

Wenn wir klein sind, sind die Eltern für uns alles. Sie wissen alles, können alles und wir bewundern sie. Mit zunehmender Reife holen wir unsere Eltern dann langsam vom Podest herunter und stellen fest, dass sie nicht alles wissen und auch Fehler machen.

In der Pubertät sind die Eltern für uns die Versager, unsere «Feinde», die uns nur Schlechtes wollen. Wir können kein Quäntchen Positives an ihnen erkennen und glauben, alles besser zu wissen.

Als Erwachsene gelangen wir im Idealfall an den Punkt, an dem wir unsere Eltern so sehen, wie sie sind, ihre Stärken und Schwächen kennen, sie als Menschen sehen, die auch Fehler machen.

Ein Leben lang verbunden

Zwischen Eltern und Kindern kann es in der Kindheit und Jugend zu vielen Konflikten kommen, die es später den erwachsenen Kindern schwermachen, sich mit den Eltern auszusöhnen.

«Fest steht, dies zeigen entsprechende Untersuchungen, Kinder brechen ihre Beziehungen nahezu niemals leichten Herzens ab. Den meisten liegt viel an einem guten Verhältnis zu ihren Eltern. Selbst Kinder, die zeitlebens unter ihren Eltern leiden oder gelitten haben, bemühen sich zum Teil in fast grotesker Weise, ihnen dennoch gerecht zu werden.»
Elisabeth Bürkler

Die Eltern gehören einfach zu uns, und wir zu ihnen, ob wir wollen oder nicht. Auch wenn sie uns verstossen oder wir uns nicht mehr blicken lassen. Sie bleiben Vater und Mutter, wir bleiben ihr Kind. Während man sich mit Freunden und Freundinnen auseinanderleben und von Liebespartnern trennen kann, kann man sich zwar von der Herkunftsfamilie entfremden, gänzlich kappen lassen sich die Bande jedoch nicht. Wie entfernt wir auch voneinander leben mögen, wie irritierend wir die gegenseitigen Ansichten finden können, wie sehr wir vielleicht zerstritten sind, wir bleiben miteinander verbunden, «bis der Tod uns scheidet».

Versöhnung mit den sterbenden Eltern

Haben Kinder ein Recht auf Versöhnung mit ihren sterbenden Eltern? Oder sollte man als erwachsenes Kind den Tatsachen ins Auge blicken und eine offensichtlich gescheiterte Beziehung im Angesicht des Todes gar nicht erst zu kitten versuchen? Kann man so eine Beziehung auf dem Totenbett wieder herstellen oder ist man chancenlos? Und was passiert, wenn das nicht gelingt?

Manchmal sind es indes auch die sterbenden Eltern, die eine Versöhnung wünschen. Und die Kinder stellen sich dann die Frage, ob das nicht nur eine Scheinveranstaltung ist und ob sie den Eltern diesen Gefallen tun müssen. Gesine Palmer, eine deutsche Religionsphilosophin, Autorin und Trauerrednerin hat dazu eine klare Antwort: «Man muss sich mit den Eltern vor deren Tod nicht versöhnen. Da bin ich ganz klar. Es gibt kein Recht auf Vergebung.» Niemand werde sich ausserdem versöhnt fühlen, wenn die Versöhnung erzwungen sei. «Da, wo unsere tiefsten Gefühle wohnen, sind wir für sittliche Forderungen nicht ansprechbar, und das ist gut so.»

Wenn man es irgendwie über sich bringen könne, dann solle man trotzdem zu den Eltern gehen, wenn sie eine Versöhnung wünschten. Dazu Palmer: «Man ist gnädig zu ihnen und nimmt mit einer Geste des Respekts Abschied.» Man schulde den Eltern nicht, sie auf dem Sterbebett aufzusuchen und sich liebevoll mit ihnen zu versöhnen. Aber man schulde ihnen den Respekt, ihren Wunsch nicht von vornherein als einen «Scheinwunsch» abzutun.

Vorher sollte man sich aber gut vorbereiten, damit man sich abgrenzen könne, falls man dies dann wolle. Palmer rät: «Man gibt seinen eigenen Standpunkt nicht auf, nur weil die sterbenden Eltern Versöhnung wünschen. Man darf nicht mit dem Gefühl aus der Situation gehen, dass man dem sterbenden Elternteil gegenüber ‘verloren’ hat. Man sollte das Gefühl haben, dass man stark war. Ihnen verzeihen sollte man aber nur aus freien Stücken.»

Freiheit durch Akzeptanz

Die Eltern anzunehmen, wie sie waren oder sind, ohne Vorbehalte, das ist oft nicht einfach, wenn sich viel Schweres angehäuft hat, beispielsweise durch immerwährende Abwertung, Schläge oder Vernachlässigung. Zu akzeptieren, dass ich diese und keine anderen Eltern habe, dass sie für mich die »Richtigen« sind oder waren, das ist das, was mich als erwachsenes Kind wirklich frei macht. Auch wenn die Eltern bereits gestorben sind, kann man mit ihnen noch Frieden schliessen. In Ihrem Innern leben die Eltern noch und haben noch Einfluss auf Ihre Gefühle und Ihr Verhalten.

Wenn wir Frieden mit unseren Eltern schliessen, bedeutet dies nicht, dass wir gutheissen, was sie uns «angetan haben» und wir ihnen dann quasi einen Persilschein ausstellen. Frieden schliessen sollten wir um unseretwegen und nicht der Eltern wegen. Es kann einfach bedeuten, dass wir die Vergangenheit so akzeptieren, wie sie für war – und sie ruhen lassen.

Wir wollen uns von der schweren seelischen Last befreien und uns nicht ein Leben lang damit bestrafen, dass wir uns nur mit unserer schlechten Kindheit beschäftigen und unsere Eltern hassen.

«Mit der Vergangenheit Frieden schliessen muss auch nicht unbedingt bedeuten, dass wir unseren Eltern verzeihen. Es kann bedeuten, dass wir den Eltern keine Vorwürfe mehr machen, sondern akzeptieren, dass unsere Eltern sich nicht wie gute Eltern verhalten haben und uns nicht das gegeben haben, was für uns als Kinder förderlich und zur gesunden Entwicklung erforderlich gewesen wäre.»
Elisabeth Bürkler

Es kann bedeuten, dass wir akzeptieren, dass unsere Eltern sich aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte oder eigener seelischer Probleme nicht anders verhalten konnten. Kurz: Die Dinge so annehmen, wie sie sind.

Versöhnung mit uns selbst

Die Berner Psychoanalytikerin und Buchautorin Katharina Ley formuliert den Begriff Versöhnung in ihrem Buch «Versöhnung mit den Eltern» so: «Versöhnlich sein heisst verstehen — ohne zu verurteilen und ohne zu werten. Das gehört zum Schwierigsten, was es gibt. Verstehen bedeutet, ermessen zu können, was abgelaufen ist. Es bedeutet nicht, dies zu akzeptieren. Es heisst, Verständnis zu haben für die Andersartigkeit und die Lebenswege anderer. Und es bedeutet zuerst und zuletzt Versöhnung mit sich selbst, mit den Fehlern, die wir täglich machen, mit den Ungerechtigkeiten, die wir anderen unwissentlich zufügen.»

Sich von der Last befreien

Gerade wenn man grossen Zorn und Verbitterung den Eltern gegenüber empfindet, tut vielleicht das Schreiben eines Briefes gut. Schreiben Sie alle Gedanken und Gefühle, alle schmerzlichen Situationen auf, in denen Sie sich als Kind (und auch noch als erwachsene Person) allein gelassen, ungerecht behandelt, vernachlässigt oder missachtet gefühlt haben. Wenn Sie den Eindruck haben, jetzt sei alles gesagt beziehungsweise aufgeschrieben, dann schliessen Sie den Brief vielleicht mit dem folgenden oder einem ähnlichen Satz: «Ich bin bereit, zu akzeptieren, dass ihr euch in meiner Kindheit in dieser Form mir gegenüber verhalten habt. Das war alles, was ihr mir geben konntet.» Dann verbrennen Sie diesen Brief oder zerreissen Sie ihn in kleine Stücke. Stellen Sie sich dabei vor, wie eine schwere Last von Ihnen abfällt und Sie nun innerlich frei sind.

Buchtipps

  • Warum wir unseren Eltern nichts schulden. Barbara Bleisch, Hanser Verlag
  • Versöhnung mit den Eltern: Wege zur inneren Freiheit. Katharina Ley, Walter Verlag