14. Juni 2019

Verzichten – nicht mehr zeitgemäss?

Verzichten – nicht mehr zeitgemäss?
Lesezeit ca. 8 min

Verzichten-Können ist keinesfalls nur eine antiquierte Tugend. Das Leben ist voller Anregungen. Wir hier haben Freiheiten wie kaum je zuvor und das bedeutet, vieles selber wählen zu müssen! Entscheide treffen heisst, auf viel Anderes verzichten. «Verzichten» ist die Basis des Willensaktes «Entscheiden».

Grundstein des Lebens

Am Beginn des Lebens stehen im Rahmen der Begabungen alle Wege offen. Biografien beginnen mit Erfahrungserweiterungen: Ressourcen werden aufgebaut. Bestimmend sind die genetischen Potenziale des Kindes, die auf die Angebote respektive Beschränkungen der Lebenswelt treffen, in die das Kind hineingeboren wird. Je besser die angeborenen Potenziale des Kindes und die angebotene Erfahrungswelt der ersten Monate zueinanderpassen, desto besser ist der Grundstein des Lebens gelegt.

Entfaltungsmöglichkeiten in den ersten Jahren

Die Wechselwirkung zwischen dem Neugeborenen, seinen angeborenen Fähigkeiten und Beschränkungen und dem anregenden oder beschränkten Angebot an Entfaltungsräumen stellt erste Weichen. Je kleiner das Kind, desto weniger können seine Neugier und Lebenslust den Rahmen der elterlichen Angebote sprengen. Sind Eltern und Betreuungspersonen nicht bereit, zugunsten der Kleinen auf viele eigene Gelüste und Möglichkeiten zu verzichten, geht dies auf Kosten der Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder.

Gerechtigkeitshalber muss ich erwähnen, dass viele Eltern selber nicht so frei sind. Viele sind in Erwerbs- und Berufsleben so eingespannt, dass ihre Zeit kaum ausreicht, alle erdenkliche Zuwendung aufzubringen, die wünschenswert wäre. Schon in den ersten Monaten und Jahren tut sich hier eine Kluft zwischen Kindern aus Familien auf, die sich mehr Zeit leisten können als die anderen.

Entwicklungschancen

Tellerwäscher-Karrieren gibt es zwar, aber sie sind – statistisch gesehen – die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Die Forschungen, zum Beispiel der Caritas über Entwicklungschancen für Kinder aus armen Familien (die sogenannte Vererbung der Armut), beweisen keinesfalls, dass diese Kinder weniger begabt sind; aber ein Umfeld des Mangels engt deren Entwicklung schon fast systematisch ein, weil ihr Anregungs- und Entfaltungsspielraum durch die äusseren Umstände karger ist.

Auch hier gibt es sicher Eltern oder Familien, die das Manko durch immaterielle Ressourcen auszugleichen vermögen. Aber Ausnahmen können nicht gegen die Regel ins Feld geführt werden. Die Regel bleibt statistisch nachweisbar. Umso wichtiger wären anregungsreiche Kitas, die zumindest für die ärmeren Familien unentgeltlich sein müssten.

«Die Lebensentwicklung schreitet schon früh in Weichenstellungen voran. Zwar lassen sich gewisse verpasste Schritte oder Fehlentscheide auch später noch ausgleichen, und doch ist es wie bei einem Gebäude: Wenn im Fundament zu wenig Standfestigkeit und Volumen aufgebaut sind, lässt sich nur ein bescheidenes Häuschen darauf bauen.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Unbenutzte genetische Potenziale können auch so verkümmern, dass sie später kaum noch reaktiviert werden können. Aber natürlich ist die Lebenszeit auch beschränkt: Kein Mensch kann aus sich selber alles machen, was aus ihm hätte werden können!

Selbstständigkeit durch Selbstvertrauen

Ab Kindergartenalter werden Kinder selbstständiger. Jetzt weitet sich der Horizont über den Familienrahmen hinaus. Neugierige Kinder mit Selbstvertrauen suchen und entdecken selber, was im erweiterten Angebot interessant und erreichbar ist. Dabei greifen sie auf das zurück, was sie bisher erfahren und erträumt haben, und dies ist – wie gezeigt – stark vom Familienhintergrund geprägt.

«Um die gebotenen Möglichkeiten fruchtbar zu machen, sind zwei Eigenschaften überaus hilfreich: Selbstvertrauen und Verzichtfähigkeit.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Die Überängstlichen getrauen sich nicht an Neues. Nur das Bekannte gibt ihnen Sicherheit. Ein Kind, das sich des Wohlwollens der anderen Menschen sicher ist und auf die eigene Stärke vertraut, kann mehr wagen, kann mehr fragen und ausprobieren – auch Rückschläge aushalten. Seine Erfahrungswelt wird es selber ausweiten.

Dabei kann es aber in die Gefahr der Verzettelung geraten: Alles und jedes ist spannend und muss erforscht werden. Die Lebenszeit ist jedoch begrenzt: Wer etwas fundiert verstehen will, muss Geduld haben und bei einer Sache bleiben können.

Verzichtfähigkeit

Konzentration auf eine Sache verlangt – zumindest zeitweise – Verzicht auf alles andere, was um uns auch noch Interessantes läuft. Wer jedem neu auftauchenden Reiz hinterherrennen muss, bleibt nie «bei der Sache». Heute wird viel Wert auf eine anregungsreiche Ausgestaltung des Erziehungsalltages gelegt. Dies ist aus der Perspektive richtig, dass vielfältige Angebote den individuellen Neigungen mehr Wahl- und Entfaltungsmöglichkeiten bieten.

Aber wie meist gibt es eine Kehrseite: Nicht alle Kinder und Erwachsenen sind gleich fähig, auszuwählen. Denn etwas auswählen heisst immer, alle anderen Angebote ausschlagen. Das kann überfordern – zumal, wenn es in allen möglichen Lebensbereichen permanent und in unübersichtlicher Vielfalt gefordert wird. Im Märchen der «klugen Else» wird von einer Magd erzählt, die nicht mehr in der Lage ist zu handeln, weil sie in ihren Fantasien darüber, was geschehen könnte, gefangen bleibt.

So gibt es besonders in der Adoleszenz Jugendliche, die über die altersmässig normale Phase der Unschlüssigkeit hinaus sich nicht entscheiden können – weder in der Berufs- noch in einer Partnerwahl. Wahl bedeutet Verzicht auf die andere Möglichkeit. Dies scheint vielen nicht leicht zu fallen.

Verzichten – nicht mehr zeitgemäss?

Überfluss an Möglichkeiten

Wer frei wählen kann, trägt auch die Verantwortung für seine Entscheide. «Fräulein, müssen wir heute wieder spielen, was wir wollen?» Das war ein kritischer Scherz über die «Free-demand-Erziehungslehre». Er trifft einen wunden Punkt: Viele möchten weniger Eigenverantwortung tragen müssen. Etliche sind sogar bereit, auf  «Freiheiten» zu verzichten, die sie überfordern. Dank unserer Überflussgesellschaft – und einer nie dagewesenen individuellen Freiheit – kann es nicht nur zu Reizüberflutung, sondern auch zu Verantwortungsüberflutung kommen.

«Viele Kinder (jeglichen Alters) stehen einem Überfluss an Möglichkeiten hilflos gegenüber: Sie möchten Orientierung. Viele möchten Autoritäten, nach denen sie sich richten können.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

So entstehen Fanclubs, Sekten und auch die Anhängerschaft der fundamentalen Ausrichtung vieler Religionen. Andere – zumal in der Pubertät – hätten gerne echte Streitpartner, um ihre oppositionellen Kräfte zu messen. Ist alles möglich und erlaubt, gibt es – um ein Bild aus dem Boxsport zu benutzen – keine Sparringpartner. Das macht das Leben beliebig, einsam und öde.

Sich festlegen gibt Halt

Verbindlichkeit – vor allem auch in Beziehungen – gibt Halt und Sinn für die eigene Existenz. Im Egotrip – in unserer Zeit oft als grosse Freiheit verherrlicht – wird das Verlangen nach verlässlicher Bindung ausgeblendet. Ein Trugschluss gaukelt vor, dadurch weniger Verzicht leisten zu müssen. Dass der Entscheid zugunsten einer zu nichts und niemandem verpflichtenden Unabhängigkeit ein Entscheid gegen ein festlegendes Füreinander bedeutet, wird ausgeblendet.

Tatsächlich geht es um die Wahl zwischen zwei Bedürfnissen: Menschen, die sich zu lange alle Optionen offenhalten wollen, riskieren die Frist zu verpassen, die ihnen die Lebenszeit zur Realisierung ihrer Träume lässt. Trotzdem ist jede Festlegung tatsächlich zugleich ein Entscheid gegen andere Möglichkeiten. Solcher Verzicht löst mehr oder minder bewussten Schmerz aus. Gibt es Misserfolg, Widerstand oder Ärger und Unmut im gewählten Weg, wachsen rasch Unsicherheit und Zweifel: War es der richtige Entscheid? Wäre die andere Wahl nicht besser gewesen? Könnte ich zurück oder ganz neu anfangen?

Verzichten – nicht mehr zeitgemäss?

Durchhalten helfen

Flexibilität steht heute hoch im Kurs. Jede/r kann neu anfangen. Doch wie oft wiederholt sich dieselbe Enttäuschung? Die gesellschaftliche, hochgehaltene Flexibilität kann als Verführung wirken, vorzeitig aufzugeben, Konflikte nicht durchzustehen oder schmerzhaften Verzichten (vermeintlich) zu entkommen. Entscheiden heisst, sich festlegen. Wirkliche Könnerschaft in Fertigkeit und in Partnerschaft entsteht nur auf lange Frist.

«Achten Sie im Erziehungsalltag darauf, Ihre Kinder so zu stärken, dass sie Schwierigkeiten aushalten und durchstehen können. Der Zeitgeist steht dem eher entgegen und ermuntert zu vorschnellem Abbruch oder zu Ersatzbefriedigung.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Kinder – und vielleicht alle Mitmenschen – brauchen unsere Unterstützung, um Misserfolg, Zweifel, Schmerz, Frust und Verzicht ertragen zu lernen. Lebenstüchtig wird, wer Enttäuschungen aushält und nicht vorschnell durch einen «Neuanfang» ausweicht: Wer «Durchtragen» gelernt hat, hat mehr vom Leben.