18. November 2022

«Wir sind ein Zuhause auf Zeit»

«Wir sind ein Zuhause auf Zeit»
Lesezeit ca. 10 min
© Illustrationen: Adrian Rast

«Hier wird gelebt, gelacht und gespielt. Aber es darf auch gestorben werden.» Die Worte von André Glauser, Geschäftsführer der Stiftung allani, begleiten mich nach dem Besuch des künftig ersten Kinderhospizes in der Schweiz. Sie hallen noch lange nach.

Ein lauer Spätsommertag in Riedbach bei Bern: André Glauser empfängt uns in ländlicher Idylle und führt durch die Räume des geplanten Kinderhospizes. Aktuell ist das kernsanierte Bauernhaus unbewohnt, denn es steht ein grosser Umbau an: Auf insgesamt drei Stockwerken sollen Kinderzimmer, Familienzimmer, Therapie- und Arbeitsräume sowie Gastronomieküche und Lagerräume entstehen. Die Eröffnung ist auf Ende 2023 geplant. Im Gespräch mit André Glauser erfahren wir mehr über die Hintergründe, Pläne und Visionen des allani Kinderhospizes.

Herr Glauser, hat die Schweiz ein Problem im Umgang mit dem Tod?

Ich würde es nicht nur auf die Schweiz beziehen. Der Tod ist allgemein ein Tabuthema. Das gilt vor allem auch, wenn es um kranke oder gar sterbende Kinder geht. In unserer Arbeit hingegen erleben wir betroffene Eltern, die oft sehr offen mit dem Thema umgehen. Man würde es nicht denken: Schliesslich müssen sie harte Schicksalsschläge verkraften, die ihr Leben auf den Kopf stellen. Das berührt mich sehr.

Was man sagen kann, ist, dass andere Länder definitiv offener sind bezüglich der Bedeutung und der Wirkung von Kinderhospizen: Insgesamt gibt es 130 davon in Europa, allein deren 20 in Deutschland. Nur in der Schweiz haben wir immer noch keins. Ich finde das völlig unverständlich!

Wurde deshalb die Stiftung allani gegründet?

Es waren mehrere Personen aus dem Gesundheitswesen, die sich 2016 fragten: Was fehlt in der Schweiz in der Betreuung von schwerkranken Kindern? Zuerst dachten sie an ein Hospiz für Kinder und Erwachsene. Später entstand daraus die Idee des Kinderhospizes. Zu diesem Zweck gründeten sie vor sechs Jahren den Verein allani Kinderhospiz Bern. Bald wurde der Verein um einen Freundeskreis von unterstützenden Personen erweitert. Dieser wuchs stetig, denn die Initiantinnen und Initianten merkten: Das Thema ist zwar tabu, aber es berührt. Einmal angesprochen, öffneten sich viele Türen.

2020 erhielt der Verein die Gelegenheit, das Bauernhaus in Riedbach zu mieten – mit Option auf einen späteren Kauf. Ein absoluter Glücksfall! Das Haus bietet Geborgenheit in mehrfacher Hinsicht: Anders als ein steriler Neubau hat das alte Bauernhaus Charme. Es ist definitiv ein Kraftort. Zudem ist die Lage ideal: Komplett auf dem Land, in traumhafter Umgebung, ist man dennoch in zehn Minuten in der Stadt.

«Wir sind ein Zuhause auf Zeit» | Stiftung allani Kinderhospiz

Auch das Inselspital in Bern, mit dem wir eng zusammenarbeiten, ist nur wenige Minuten entfernt. Die Nähe zu einem Akutspital ist einerseits eine Auflage, andererseits sehr wichtig für die Eltern, sie gibt ihnen Sicherheit. Und wir können gegenseitig Ressourcen und Synergien nutzen. 2021 konnten wir das Haus kaufen – dank der Unterstützung der Heinz Schöffler-Stiftung und der Katholischen Kirche Region Bern. Dieser Schritt verlieh dem Projekt enormen Schub. Ende März 2022 entschied der Verein, allani in eine Stiftung mit professionellen Strukturen zu überführen.

Was heisst eigentlich Allani?

Allani war die Göttin der Unterwelt der Hurriter, eines bronzezeitlichen Volkes im Alten Orient. Als Wächterin des Tores zur Unterwelt begleitete sie den Übergang vom Diesseits ins Jenseits.

Worin unterscheidet sich ein Kinderhospiz von einem Hospiz für Erwachsene?

Ein Erwachsenenhospiz ist auf das unmittelbare Lebensende ausgerichtet. Im Kinderhospiz hingegen können Kinder über Jahre hinweg immer wieder Zeit verbringen. Unser Gesundheitssystem ist so fortgeschritten, dass Kinder mit lebenslimitierenden Krankheiten heute oft eine höhere Lebenserwartung aufweisen. Bei uns soll gelebt, gespielt, gelacht werden. Aber auch bei uns werden Freude und Trauer nahe beieinander sein.

Das Angebot reicht also über die reine Pflege der Kinder hinaus?

Genau. Es geht nicht ausschliesslich um die kranken Kinder, sondern um die ganze Familie: Diese ist sieben Tage pro Woche rund um die Uhr mit der Krankheit des Kindes beschäftigt. Wir Aussenstehenden können uns kaum vorstellen, was das bedeutet: die ganze Zeit pflegen, organisieren, koordinieren … Geschwister werden zu sogenannten «Schattengeschwistern»; ihre Bedürfnisse kommen zu kurz. Dem Familiengefüge droht der Kollaps.

«Zwar hat die Schweiz ein unglaublich gutes Gesundheitswesen. Im Spital werden die Kinder bestens versorgt; zu Hause unterstützt die Spitex. Doch dazwischen, in der Mitte, fehlt etwas: Es braucht eine stationäre Einrichtung für die ganze Familie. Wir schaffen einen Ort, wo sich medizinische Sicherheit und Geborgenheit in einem schönen Zuhause auf Zeit die Hand reichen.»
André Glauser
Geschäftsführer Stiftung allani
«Wir sind ein Zuhause auf Zeit» | Stiftung allani Kinderhospiz

Wie dürfen wir uns das Zuhause von allani konkret vorstellen?

Wir planen Angebote mit Tagesstruktur für regelmässige Aufenthalte an fixen Wochentagen sowie für Aufenthalte von mehreren Tagen oder Wochen am Stück. Insgesamt wollen wir Raum für bis zu acht Kinder mit lebenslimitierenden Erkrankungen und deren Familien bieten. Dazu sind drei Familienzimmer und fünf Kinderzimmer vorgesehen. Im benachbarten Stöckli sollen weitere vier Elternschlafzimmer untergebracht werden – damit Eltern auch mal für sich sein können.

Nebst Pflege und Therapie der kranken Kinder werden im Kinderhospiz auch die Angehörigen betreut. Dazu wird es ein Rahmenprogramm geben mit Angeboten wie Aufgabenhilfe für Geschwister, Besuche im Tierpark, Ausflüge ins Schwimmbad, gemeinsames Kochen und Backen oder Spaziergänge in der nahen Umgebung.

Im allani Kinderhospiz darf auch gestorben werden: Zwei der acht Betten sind eingeplant für die Lebensendphase. Einige Eltern wünschen sich das Sterben zu Hause, andere können sich dies nicht vorstellen. So verbringen heute die Kinder ihre letzte Zeit vornehmlich in einem eher nüchternen Spital. Bei uns können die Kinder unter pflegerischer Betreuung in einer geborgenen Umgebung sterben.

Wie alt sind die Kinder in der Regel, und welche Krankheiten werden vor allem erwartet?

Vom Neugeborenen bis zum Jugendlichen sind alle Altersgruppen willkommen. In erster Linie rechnen wir mit Kindern mit Geburtsgebrechen. Wir wollen möglichst individuell auf die Kinder und ihre Bedürfnisse eingehen. Doch das ist eine grosse Herausforderung. Insbesondere benötigen wir Fachpersonal mit Ausbildung in Pädiatrischer Palliative Care. Im Zeichen des aktuell herrschenden Fachkräftemangels wird dieses nicht einfach zu finden sein.

Palliativpflege, Palliative Care

Die Palliativpflege («Pallium» = lateinisch «Mantel») umfasst die ganzheitliche Betreuung von Patientinnen und Patienten mit unheilbaren Krankheiten. Ziel ist die Erhaltung einer möglichst hohen Lebensqualität der Betroffenen bis zum Schluss. Die pädiatrische Palliativpflege (Pädiatrie = Kinder- und Jugendmedizin) richtet sich an Kinder und Jugendliche mit lebensbegrenzenden Krankheiten und deren Angehörige.

Wie viel Personal ist geplant? Welche Be­rufsgruppen werden vertreten sein?

Wir haben Wochensimulationen durchgeführt, um den Personalbedarf zu eruieren. Dabei haben wir 21 Vollzeitstellen berechnet, davon 14 in der Pflege. Weiter ist Personal geplant für Hauswirtschaft, Administration – zum Beispiel für Abklärungen bei der IV und bei den Krankenkassen – und Fundraising. Ohne den Einsatz von Freiwilligen wäre der Betrieb eines Kinderhospizes aber nicht möglich.

Deshalb bieten wir seit diesem Jahr eine Weiterbildung für Freiwillige in Zusammenarbeit mit pro pallium an. Zudem möchten wir die Angehörigen auch nach dem Tod ihres Kindes weiter begleiten. Unter dem Titel «Wendepunkt» wollen wir betroffenen Eltern die Möglichkeit zum Gespräch, zum gegenseitigen Austausch geben.

Auf welchem Weg gelangen Betroffene ins Kinderhospiz?

Viele werden über das Inselspital, mit dem wir sehr eng kooperieren, zu uns kommen. Aber wir sind für die ganze Schweiz offen – zumal es ja bis heute noch gar kein Kinderhospiz gibt.

Hospiz

Hospiz bedeutet auf lateinisch «Herberge». Früher als einfache Übernachtungsmöglichkeit für christliche Pilger bekannt, wird der Begriff heute mit einer Einrichtung zur Betreuung sterbender Menschen verbunden.

Inzwischen sind neben allani zwei weitere Projekte in Planung: im Kanton Zürich und in Basel. Zukünftig haben wir hoffentlich drei Kinderhospize in der Schweiz. Und diese braucht es: In der Schweiz leben mehr als 5000 Kinder mit lebenslimitierenden Krankheiten ohne Aussicht auf Heilung.

Haben Sie auch deshalb bereits vor der Eröffnung Patientinnen und Patienten aufgenommen?

Wir haben 2021 die sogenannten «Lichtblick»- Wochenenden ins Leben gerufen – Wochenendaufenthalte für die Familien mit lebenslimitierend erkrankten Kindern inklusive Rah- menprogramm für die Angehörigen. Diese Aufenthalte haben uns wichtige Erkenntnisse gebracht – sei es in der Pflege, in der Logistik, bei der Zusammenarbeit mit Spitex-Organisationen und Freiwilligen oder beim Rahmenprogramm. Wobei es da weniger braucht als angenommen. Die Angehörigen wollen vor allem zur Ruhe kommen, einmal runterfahren können.

«Wir sind ein Zuhause auf Zeit» | Stiftung allani Kinderhospiz

Wie wird das Kinderhospiz finanziert?

Da in der Schweiz bisher noch kein Kinderhospiz existiert, gibt es folglich auch keine Unterstützung von Bund oder Kantonen. Wir fallen also momentan zwischen Stuhl und Bank und finanzieren uns zu 100 Prozent über Spenden. Zwar hat die Politik mittlerweile den Handlungsbedarf erkannt: Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat im Auftrag des Bundesrats zwei Arbeitsgruppen gebildet, die den Bedarf an palliativer Pflege sowie deren Finanzierung ermitteln. Unbestritten ist: Bund und Kantone müssen in diesem Bereich mehr Geld in die Hand nehmen – bis es aber so weit ist, kann es noch Jahre dauern. Daher gehen wir in unseren Berechnungen davon aus, dass wir uns bis Ende 2026 selbst finanzieren müssen.

Was ist ihre Vision für die Zukunft? Was möchten Sie hier im Kinderhospiz antreffen?

Ich möchte Lachen hören. Das wäre schön. Es widerspiegelt, was wir aufbauen wollen: Im allani Kinderhospiz soll gelebt und gelacht werden; aber natürlich werden wir auch traurige Momente erleben. Trauergefühle und Tränen gehören dazu und sollen ihren Platz erhalten.

Unterstützen Sie das allani Kinder­hospiz Bern: Ob zweckgebundene Spende für den Umbau, Einmalspende oder Patenschaft: Jeder Beitrag hilft mit, das erste Kinderhospiz der Schweiz zu eröffnen.

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