Mit der Zeit ist das so eine Sache: Viele Menschen klagen stets, zu wenig davon zu haben. Auch ich stimme gelegentlich in dieses Klagelied ein. Habe ich denn wirklich zu wenig Zeit?

Ungenutzte Zeit

Im Grunde genommen bin ich ein eher ruhiger Mensch und lasse mich nicht so schnell aus der Ruhe bringen (und wenn, dann sieht man es mir nicht an …). Aus der inneren Ruhe kom­me ich aber immer dann, wenn ich irgendwo warten muss: im Supermarkt an der Kasse, am Bahnhof, am Flughafen oder noch schlim­mer – im Stau. Dann merke ich, dass sich in meiner Seele etwas heftig regt. So wie kürz­lich: Geschlagene 25 Minuten warte ich vor einem Schalter in einer Bank, bis ich endlich an der Reihe bin. Ich verlagere mein Gewicht abwechselnd vom linken Bein auf das rechte, immer wieder studiere ich meine Unterlagen, obschon ich sie längst auswendig kenne. Ich schreibe noch eine SMS, schaue wieder auf die Uhr. Ich beobachte die Personen, die vor mir stehen – hoffend, dass sie dem Schalter­beamten keine komplizierten Anliegen vor­bringen werden, welche die ganze Warterei noch verzögern könnten.

Und zunehmend ärgere ich mich: Muss das sein? Diese ekel­hafte Warterei! Doch ich könnte auch anders fragen: Muss das sein? Dieser innere Aufruhr darüber, dieser Ärger, dieses unangenehme Gefühl – nur weil ich ein paar Minuten warten muss.

Habe ich denn – wie so viele Mitmenschen – einfach immer zu viel zu tun und halte es des­ wegen nicht aus, irgendwo einen Moment warten zu müssen? Nein, das ist es nicht. Mitt­lerweile habe ich mir mein Leben nämlich so eingerichtet, dass ich grundsätzlich genug Zeit hätte. Ausserdem weiss ich von mir, dass ich manchmal sehr gerne eine Weile nichts tue und diese «ungenutzte» Zeit nicht nur schätze, sondern richtiggehend geniesse. Aber es be­steht in meinem Empfinden doch ein grosser Unterschied zwischen freiwilligem Nichtstun und erzwungenem Nichtstun. Das ist der Punkt.

«Ich spüre, dass ich gern selbst über meine Zeit bestimme, dass ich sie mir gern selbst ein­richte und mich gern selbst organisiere. Ich reagiere geradezu allergisch darauf, wenn andere über meine Zeit entscheiden.»
Albin Rohrer

Und das ist hier am Schalter dieser Bank gerade der Fall: Fünf Personen stehen noch vor mir in der Reihe. Somit hängt die Zeit meines War­tens von den Anliegen dieser fünf Personen und natürlich auch von der Effizienz des Schal­terbeamten ab. Man stiehlt mir «meine» Zeit. Ein Gefühl der Ohnmacht breitet sich in mir aus …

«Habe ich zu wenig Zeit?»

Ungewisse Lebenszeit

So mache ich mir derweil ein paar Gedanken über meine Zeit. Die erste Frage, die mich diesbezüglich beschäftigt, ist die Frage, wie viel Zeit ich überhaupt im Leben habe. Meine Lebenszeit also. Und genau diese Frage kann ich natürlich nicht beantworten. Schliesslich weiss ich nicht, wie viel Zeit mir das Leben noch schenkt. Die Lebenserwartung in der Schweiz beträgt gemäss Angaben des Bun­desamts für Statistik 81,3 Jahre. Somit blei­ben mir also noch 25 Jahre. Theoretisch.

Und praktisch? Alles ist möglich. Wer weiss – vielleicht liege ich schon in drei Wochen unter der Erde, vielleicht spaziere ich in 30 Jahren noch munter durch die Stadt. Mir darüber allzu viele Gedanken zu machen, scheint mir wenig sinnvoll. Natürlich weiss ich, was ich im Leben alles noch tun möchte (und das ist nicht wenig). Ob es allerdings für alles reicht, weiss ich nicht.

Bilanz ziehen

Wenn ich denn schon nicht weiss, wie viel Zeit mir bleibt und was ich alles damit anfangen würde, so kann ich wenigstens zurückblicken und Bilanz ziehen. Wie viel Zeit erlebte ich bisher und was habe ich daraus gemacht? Habe ich meine Zeit genutzt? Habe ich sie vertrödelt? Habe ich sie genossen? Bin ich zufrieden mit dem, was ich bisher mit meiner Zeit gemacht habe?

Nun, man sagt, dass der Mensch etwa acht Stunden pro Tag schlafe. Demnach habe ich also einen Drittel des Lebens schlafend ver­bracht. Manchmal besser, manchmal schlech­ter – gelegentlich habe ich dabei auch ge­träumt (manchmal angenehm, manchmal etwas unangenehm). Und meistens habe ich mich beim Schlafen gut erholt. Wenngleich mir acht Stunden doch etwas viel scheinen, glaube ich, dass ich damit zufrieden sein muss. Es gibt zwar Menschen, die deutlich weniger Schlaf benötigen und entsprechend länger wach sind. Von mir aber weiss ich, dass ich meine Wachzeiten nur geniessen und optimal nutzen kann, wenn ich genügend und gut ge­schlafen habe.

Weitere acht Stunden verbringt der Mensch (jedenfalls in unserer Kultur) mit dem Schul­besuch, Ausbildungen und später dann mit der Arbeit. Hier sieht meine Bilanz ähnlich aus wie beim Schlafen: Im Grossen und Ganzen bin ich damit zufrieden. Ich arbeite meistens gern und sehe die Arbeit nicht nur als Mittel, um Geld zu verdienen. Ich betrachte sie auch als ein Mittel, um meine Fähigkeiten zu nut­zen, um etwas Sinnvolles zu tun, oder auch, um in Kontakt mit anderen Menschen zu treten. Ich hatte sogar das Glück, dass ich meine wirklichen Leidenschaften mehrmals auch im Beruf ausleben durfte. So etwa das Schreiben.

Acht Stunden Arbeit und acht Stunden Schlaf – bleiben noch einmal acht Stunden pro Tag für den Rest: kochen, essen, putzen, Freunde treffen, spielen, einkaufen, vor dem Fernseher sitzen, reisen, faulenzen, wandern, Musik hö­ren, Fotos anschauen, telefonieren, Blumen tränken, Zeitung lesen, Gitarre spielen, du­schen, Fingernägel schneiden, rasieren oder eben vor einem Bankschalter stehen und warten, um eine Finanzangelegenheit zu er­ledigen … Wie sieht denn meine Bilanz dies­ bezüglich aus?

Leistung erbringen

Irgendwo habe ich gelesen, dass die Men­schen in Berlin doppelt so schnell auf den Strassen unterwegs seien wie Sizilianer*in­nen in ihren Dörfern. Was heisst das?

«Das bedeutet wohl, dass die einen offenbar mehr zu tun haben als die anderen. Oder vielleicht besser gesagt: Die einen glauben, mehr tun zu müssen als die anderen.»
Albin Rohrer

Ich vermu­te, dass Schweizer*innen eher zu den einen als zu den anderen gehören. Jedenfalls ich. Manchmal nämlich glaube ich tatsächlich, zu wenig Zeit zu haben. Dann bin ich rela­tiv schnell unterwegs. In den Ferien kann es durchaus geschehen, dass ich ein sizilia­nisches Tempo anschlage. Normalerweise aber bin ich wie ein Berliner unterwegs.

Dabei weiss ich eigentlich: Zeit hat nicht nur etwas mit Quantität, sondern auch mit Qua­lität zu tun. Die Frage wäre also nicht, wie viel Zeit ich habe, sondern eher, was ich daraus mache. Doch ganz so einfach ist es dann doch nicht. Esoteriker*innen predigen zwar immer vom «ganz bewusst im Hier und Jetzt sein». Das klingt irgendwie einleuchtend – doch manchmal möchte ich trotz allem nicht da sein, wo ich bin, sondern schon etwas weiter.

«Ich habe den Drang, vorwärtszugehen, mich zu bewegen, etwas zu tun, etwas zu verän­dern. Ich halte es einfach nicht aus, mich wie ein Schwan stundenlang auf dem Wasser treiben zu lassen, oder wie ein vollgefressener Löwe einen ganzen Tag lang vor mich hinzu­dösen.»
Albin Rohrer
«Habe ich zu wenig Zeit?»

Stimmt etwas nicht?

Stimmt mit mir etwas nicht? Nein, ich denke, es ist alles in Ordnung. Da ich kein Esoteriker, kein Sizilianer, kein Schwan und auch kein Löwe bin, werde ich auch weiterhin versuchen, möglichst viel zu tun und zügig vorwärtszu­gehen. Und ich nehme es in Kauf, mich auch künftig gelegentlich etwas zu ärgern, wenn ich an einem Schalter, an einer Kasse oder in einem Stau lange warten muss. Und weil ich jetzt auch noch etwas anderes tun will, be­ende ich diesen Text!