Ungewollter Harnabgang schränkt viele Frauen in ihren Aktivitäten ein. Im Sommer leiden sie noch mehr als sonst darunter, ihre Blase nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Unnötigerweise, denn auch für schwere Fälle von Inkontinenz gibt es Therapien. Cornelia Betschart ist Gynäkologin und Spezialistin für Urogynäkologie und kennt die Behandlungsmöglichkeiten.

Frau Betschart, in der Werbung wird offener mit dem Thema Inkontinenz umgegangen, spezielle Hygieneprodukte werden beworben und im Supermarkt angeboten. Ist die Scham zu dem Thema verschwunden?

In erster Linie können wir daran sehen, dass das Problem weit verbreitet ist. Für Betroffene sind diese Produkte natürlich hilfreich. Sie sollten aber nicht dazu führen, dass der Eindruck entsteht, es gäbe keine wirksamen Behandlungsmöglichkeiten. Und: Die Scham ist immer noch da. Betroffene behelfen sich oft viel zu lang selbst und sprechen erst mit ihrem Hausarzt oder der Gynäkologin darüber, wenn der Leidensdruck gross geworden ist. Die richtige Behandlung kann aber nicht nur die Beschwerden lindern, sondern in einigen Fällen auch die komplette Kontrolle über die Blasenentleerung wiederherstellen.

Wann spricht man genau von Inkontinenz?

Bei einer Inkontinenz können Betroffene die Entleerung ihrer Blase nicht mehr kontrollieren. Es kommt zu einem unwillkürlichen Harnverlust. Das Ausmass kann dabei sehr unterschiedlich sein, schränkt aber bei allen Betroffenen die Lebensqualität massiv ein. Abhängig von der Ursache ist die Inkontinenz zudem mit weiteren Beschwerden verbunden.

Warum sind in der grossen Mehrheit Frauen betroffen?

Die weibliche Anatomie macht Frauen anfälliger für eine Blasenschwäche. Vielen ist bekannt, dass eine Schwächung des Beckenbodens durch Schwangerschaft und Geburt Ursache für eine Inkontinenz sein kann. Aber auch andere Veränderungen im Umfeld der Blase, in der Blase selbst, schweres Heben oder einfach das Alter können zu einer Inkontinenz führen.

In einem ersten Schritt muss also erst einmal die genaue Ursache abgeklärt werden?

Für eine zielgerichtete und wirksame Therapie ist es grundlegend, ob eine Organsenkung, eine Beckenbodenschwäche oder Probleme an der Blase selbst, beispielsweise am Schliessmuskel, die Ursache sind. Wir unterscheiden auch verschiedene Formen der Inkontinenz, je nachdem, ob der Harnverlust bei Belastung, zum Beispiel durch Husten oder beim Sport, vorkommt, oder ob ein dauernder Harndrang besteht. Erster Ansprechpartner für eine Abklärung ist der Hausarzt oder die Gynäkologin.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Das Spektrum reicht vom Toilettentraining mit einem «Blasentagebuch», Übungen zur Stärkung des Beckenbodens und individueller Beckenbodenphysiotherapie bis zu verschiedenen Eingriffen. Je nach Ursache können auch Medikamente oder Hormonpräparate helfen. Einige Formen der Harninkontinenz können aber nur operativ korrigiert werden.

Wenn die Blase nicht mehr dichthält | Universitätsspital Zürich USZ
Auch für schwere Fälle von Inkontinenz gibt es Therapien.

Können Sie die operativen Eingriffe, die am UniversitätsSpital Zürich (USZ) gemacht werden, etwas erläutern?

Am häufigsten stellen wir die Dichtigkeit der Harnröhre wieder her. Dies kann mit einem Band, das um die Harnröhre eingesetzt wird, erreicht werden. Zur Unterstützung der Harnröhre kann diese auch mit Füllmitteln, so genannten Gels, verengt werden. Zu den selteneren Inkontinenzformen gehört die extraurethrale Inkontinenz. Dabei geht der Urin über falsche Wege, über Fisteln, ab. Diese Korrekturen gehören unbedingt in die Hand von Ärztinnen und Ärzten spezialisierter Beckenbodenzentren. Bei Organsenkungen ist es möglich, diese operativ wieder anzuheben und so den Druck auf den Harnröhrenverschluss zu senken, der zum Urinverlust führt.

Eine überaktive Blase kann mit einem sogenannten Blasenschrittmacher beruhigt werden. Durch andere Einstellungen des Schrittmachers kann ebenso eine Blase, die sich nicht mehr selbst entleert, wieder aktiviert werden. Wenn immer möglich, sollte bei allen Operationen minimal invasiv und ohne Bauchschnitt vorgegangen werden. Manche Eingriffe sind auch ambulant möglich oder es ist lediglich eine lokale Betäubung nötig.

Am USZ werden Patientinnen mit einem Inkontinenzproblem durch ein spezialisiertes Team behandelt. Wie ist das zusammengesetzt?

Die Abklärungen und Behandlungen finden in unserer urogynäkologischen Spezialsprechstunde der Frauenklinik statt. Sie werden durch erfahrene Fachärztinnen und -ärzte für Urogynäkologie, die selber auch Forschung betreiben und die neuesten Therapien kennen, durchgeführt. Dahinter steht dann ein interprofessionell zusammengesetztes Team aus spezialisierten Urotherapeutinnen und Ärzten für die verschiedenen Therapien. Wir beraten auch Patientinnen, die vor einem Entscheid für eine Behandlung eine Zweitmeinung einholen möchten.

Was kann man vorbeugend gegen Inkontinenz tun?

Ein starker Beckenboden kann nicht nur Inkontinenz vorbeugen, sondern trägt auch dazu bei, Rückenbeschwerden und Verspannungen im Nacken-Schulter-Gürtel zu vermeiden. Regelmässiges Training führt also nicht nur zum kontrollierten Abgang von Harn, Winden oder Stuhlgang und zahlt sich in verschiedener Hinsicht aus. Übergewicht kann den Beckenboden zusätzlich schwächen und eine bestehende Inkontinenz verschlechtern. Um die Belastung auf den Beckenboden zu reduzieren, sollte man deshalb versuchen, überschüssige Kilos zu verlieren.

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