Die Trauer ist etwas, was wir nicht einfach übergehen können. Um sie zu überwinden, müssen wir uns intensiv damit auseinandersetzen.
Nun ist er also tatsächlich gestorben, der 34-jährige Sebastian. Er wusste, dass er diese Krankheit nicht überleben wird, alle wussten es, seine Eltern, seine Geschwister, seine Freunde. Und alle haben ihn in den letzten Monaten liebevoll in den Tod begleitet. Trotzdem war es dann für alle ein Schock, als er an einem frühen Sonntagmorgen seine Augen definitiv schloss. Seine Mutter erlitt einen Zusammenbruch, sie war tagelang kaum ansprechbar. In ihren Augen war allergrösste Verzweiflung sichtbar.
Ein paar Wochen später antwortete sie auf die Frage, wie es ihr gehe, nur ganz kurz: «Ich bin unendlich traurig!»
Die Trauer hat einen klar definierbaren Grund: Traurig werden wir immer dann, wenn wir irgendetwas verlieren, was uns wichtig war. Traurig werden wir beispielsweise beim Verlust des Arbeitsplatzes, bei einer Trennung; traurig werden wir auch, wenn wir uns von Wünschen, Zielen, Plänen oder von Lebensumständen trennen müssen. Und traurig werden wir vor allem dann, wenn wir einen Menschen verlieren, der uns wichtig war und uns nahestand. Am grössten ist die Trauer logischerweise dann, wenn ein geliebter Mensch stirbt – und wir uns nach und nach gewahr werden, dass dieser Abschied definitiv ist, auch wenn wir es im ersten Moment gar nicht wahrhaben wollen.
Die Trauer ist nicht nur ein sehr intensives Gefühl, sie ist in ihrem Verlauf auch ein recht komplexer und vielschichtiger Prozess. Es ist nämlich nicht so, dass wir nur ein wenig traurig sind und dass dann alles schnell vorbei ist (das mag vielleicht zutreffen, wenn uns ein kleines Missgeschick passiert, etwa wenn wir eine Prüfung nicht beim ersten Mal bestehen); eine Trauerphase kennt verschiedene Stadien mit unterschiedlichen Gefühlen und entsprechend mit unterschiedlichen Aufgaben. «Trauer ist die heilsame Antwort eines lebendigen Herzens auf Abschiede und Trennungen», schreibt Jorgos Canacakis in seinem Buch «Auf der Suche nach den Regenbogentränen», und er ermuntert zu einem «liebevollen Umgang mit der Trauer.»
Trauer ist Schmerz. Nicht nur psychisch, oft sogar auch physisch. In schweren Fällen leiden Menschen nach einem grossen Verlust nicht nur an Einsamkeit, Isolation oder emotionaler Labilität, sondern auch an körperlichen Schmerzen.
Sigmund Freud (1856 – 1939), der grosse Psychoanalytiker, hat sich ebenfalls intensiv mit der Trauer befasst und beschreibt vier zentrale Charakteristika:
In schweren Fällen kann die Trauer krankhaft werden: selbstzerstörerisches Verhalten (Alkohol, Medikamente), Selbstmordgedanken, komplette soziale Isolation, schwere Depression.
Das heisst: Wenn wir traurig sind, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns der Trauer zu stellen. Jahrelanges Verdrängen macht die Sache auf die Dauer nur noch schlimmer und komplizierter.
Verlieren wir plötzlich einen geliebten Menschen, so steht am Anfang meist ein Schock. Es ist das Stadium der unmittelbaren Betroffenheit und sehr oft reagieren wir dann mit Verdrängung. «Das kann doch nicht wahr sein», «das stimmt doch gar nicht.» So auch kürzlich die Mutter des verstorbenen Sebastian. Voller Trotz sagte sie: «Vielleicht stimmt es schon, dass Sebastian gestorben ist, aber ich will das gar nicht glauben.» Die Phase des Schocks hat durchaus ihren Sinn: Sie schützt den Menschen vor einem allzu grossen Schmerz und je nach Situation kann sie Stunden, Tage oder sogar Wochen dauern.
Ist diese Phase überwunden, folgt die Reaktionsphase. Tränen fliessen, man kann zur Trauer stehen, man wird wütend, Ängste entstehen. Auch diese Phase kann sich über Tage und Wochen hinziehen, in seltenen Fällen gar über Jahre.
Ist dann auch diese Phase überwunden, kommt es zur eigentlichen Verarbeitungsphase. Ein ganz wichtiger Prozess kommt in Gang: Bewusst oder unbewusst wird der Verlust verarbeitet. Noch ist die Situation sehr schwierig, allmählich aber beginnt man, das Verlorene loszulassen und es entwickelt sich die Fähigkeit, Erinnerungen an das Verlorene ertragen zu können. Auch diese Phase dauert je nach Umständen kürzere oder längere Zeit.
Schliesslich kommt die Phase der Neuorientierung. Der Verlust ist im Grossen und Ganzen überwunden, es entwickelt sich Lust auf das veränderte Leben, oft verbunden mit einem neuen Selbst- und Weltbild. Das Geschehene hat zur eigenen Reifung beigetragen.
So unterschiedlich die Menschen sind, so unterschiedlich laufen bei einem schweren Ereignis die beschriebenen Phasen ab.
Richard Lamerton schreibt dazu Folgendes: «Jemand kann sich lange in der Reaktionsphase aufhalten, um dann wieder zum Verhalten der Schockphase zurückzukehren. Viele wechseln jahrelang zwischen den Stadien hin und her.»
Wenn wir ganz plötzlich etwas verlieren und deswegen traurig sind, so erscheint das im ersten Moment logischerweise sinnlos. Es kommen dann noch Gefühle von Ungerechtigkeit auf («warum muss mir so etwas passieren »). Doch die Trauer hat auch ihren Sinn: Das Leben ist vergänglich, nichts ist fest und früher oder später müssen wir eh alles loslassen. Dann nämlich, wenn wir selber sterben.
Und richtiges Trauern kann uns auch helfen, irgendwann wieder richtig Glück und Freude empfinden zu können. «Trauer hat heilende Kraft», schreibt Jürg Zink.
Trauern macht auch dann Sinn, wenn wir die Tränen zulassen: «Im Weinen liegt eine gewisse Wonne», schrieb der römische Dichter Ovid.
Tränen sind jedoch nicht nur aus psychologischer Sicht wichtig, sondern auch aus medizinischer Sicht. So enthält etwa die Tränenflüssigkeit antibiotische Stoffe, die Bakterien und Viren in Schach halten. Wissenschaftler sind der Ansicht, dass Tränen überschüssige und auch giftige Chemikalien aus dem Körper scheiden, die sich in Stresssituationen aufgebaut haben. Und dass zum Beispiel der Verlust eines geliebten Menschen Stress auslöst, liegt wohl ausser Frage. Untersuchungen haben gezeigt, dass Erwachsene, welche häufiger weinen und dazu eine positive Einstellung haben, physisch und psychisch gesünder sind als Menschen, welche ihre Tränen unterdrücken.
Trauernde Menschen brauchen Trost. Sie brauchen eine Begleitung; wer ist denn schon gerne mit seiner Trauer alleine. Doch wie tröstet man jemanden, der sehr traurig ist? Ganz sicher nicht mit den zwar gut gemeinten, aber völlig deplatzierten Worten «das ist ja nicht so schlimm, das geht wieder vorbei.» Es geht – wie bereits erwähnt – nämlich nicht darum, die Trauer so schnell wie möglich loszuwerden; es geht darum, durch die Trauer hindurchzugehen.
Was können wir tun, wenn jemand trauert? Beistehen, zuhören, Verständnis zeigen.
Im Verlaufe des Lebens müssen wir immer wieder loslassen. Die jugendliche Frische, die Kinder, wenn sie ausziehen, Arbeitsplätze, Illusionen, Orte, die uns an Herz gewachsen sind und nicht zuletzt Menschen, die uns nahestanden.