In einer Familie Geheimnisse zu hüten, dient zwar häufig dem Schutz dieser Gemeinschaft, doch dies birgt auch Konfliktpotenzial.

In vielen Familien werden Geheimnisse gehütet. Sie können einerseits als Schutz der Gemeinschaft dienen, andererseits aber auch einigen Zündstoff enthalten.

Jeremy ist der Stolz seiner Grosseltern. Seine Mutter und sein Vater bringen es nicht übers Herz, ihnen zu offenbaren, dass der Enkel wegen wiederholter disziplinarischer Schwierigkeiten aus dem Gymnasium geflogen ist. Laut Experten werden in nahezu jeder Familie Tatsachen oder auch Gefühle verschwiegen, etwa eine Steuerhinterziehung oder eine Ehekrise.

Indem Unangenehmes unter Verschluss gehalten wird, soll das Ansehen der Familie geschützt werden.

«Was gegen aussen verheimlicht wird, ist auch eine Frage der Kultur und des Zeitgeistes. Vor Jahrzehnten machten manche junge Frauen offiziell einen 'Erholungsurlaub', wenn eine aussereheliche Geburt vertuscht werden sollte; heute ist eine Geburt ohne Trauschein kaum mehr ein Makel.»
Adrian Zeller

Unterschiedliche Familiengeheimnisse

Bei Familiengeheimnissen werden von Fachleuten drei Kategorien unterschieden:

  • Geheimnisse persönlicher Art
  • Geheimnisse, die nur ein Teil der Familie kennt
  • Geheimnisse, die allen Mitgliedern bekannt sind

Manche der allen bekannten Geheimnisse werden innerhalb der Familie totgeschwiegen, weil sie entweder schamhaft sind, oder weil sie zu verletzenden Vorwürfen oder zu heftigen Konflikten führen könnten. Sie sind sozusagen tabu. Volkstümlich ausgedrückt: «Es wird dem Frieden zuliebe geschwiegen.»

Gelegentlich werden Geheimnisse über Generationen unter Verschluss gehalten. Ein Beispiel: Dass damals der Grossvater die Familie verliess und mit einer jüngeren Frau eine neue Familie gründete, und es deshalb Halbgeschwister und deren Nachkommen gibt, wird weder an Geburts- noch an Feiertagen erwähnt. Die beiden Familien ignorieren die jeweils andere. Manche Geheimnisse kommen erst ans Tageslicht, wenn eine Person verstorben ist. Beispielsweise kann ein erst dann bekannt werdender Schuldenberg die Nachkommen veranlassen, das Erbe auszuschlagen.

Verwirrende Gefühle

Gegen aussen geheim gehalten werden im Weiteren beispielsweise die nachgeburtliche Depression der Mutter, die aussereheliche Affäre des Vaters, die Epilepsie-Krankheit der Tochter sowie der Führerausweisentzug des Sohnes. Auch Handgreiflichkeiten bleiben zum Teil ein Familiengeheimnis. 2022 wurden in der Schweiz von der Polizei rund 20 000 Straftaten mit häuslicher Gewalt erfasst. Die Dunkelziffer dürfte laut Experten weit höher liegen.

«Familiengeheimnisse lösen oft zwiespältige Gefühle aus. Gegenüber Angehörigen fühlt man sich zu Loyalität verpflichtet. Gleichzeitig können Wut, Angst, Abscheu, Schuldgefühle oder auch Hilflosigkeit und Ohnmacht auftreten – dieses Gefühlsdilemma kann überfordern.»
Adrian Zeller

Wenn einen ferner das schlechte Gewissen plagt, sind Geheimnisse eine innerlich brodelnde Qual. Und das Verheimlichte kann zum einschnürenden Korsett werden, wenn «heile Familie» gespielt werden muss, und niemand von den Suchtproblemen oder den Geldsorgen erfahren darf. Diese gekünstelte Fassade, hinter der eigene schlechte Gefühle überspielt werden müssen, bedeutet laut Studien Dauerstress. Es muss etwa dafür gesorgt werden, dass Töchter und Söhne als Kleinkinder peinliche Tatsachen aus der Familie nicht ausplaudern. Und indiskrete Fragen müssen mit Ausreden pariert werden.

«Mögliche Folgen dieser Belastung sind körperliche Beschwerden, Verstimmungen oder Angstattacken.»
Adrian Zeller

Wenn Familiengeheimnisse belasten

Geheimnisträger*innen benötigen viel Selbstbeherrschung, damit ihre Zunge auch nach zwei Gläsern Wein nicht zu locker wird. Eventuell muss die Essstörung der Tochter mit Ausflüchten vertuscht werden. Auch das Gegenteil ist möglich: Manche Menschen konsumieren zu viel Alkohol oder Medikamente, um den inneren Druck über ihr quälendes Wissen abzumildern. In jedem Fall führen unangenehme Geheimnisse zu innerer Anspannung und zu einer Verringerung an Lebensqualität, weil die Gedanken häufig um dieses Geheimnis kreisen.

Laut Untersuchungen leidet das Leistungsvermögen am Arbeitsplatz oder in der Schule darunter. Wenn Mitwisser die Geheimnisse als Druckmittel benutzen, um andere Familienmitglieder zu bestimmten Verhaltensweisen zu zwingen, kann dies die ohnehin schwierige Situation zusätzlich verschärfen. Geheimnisse können sich auch ungünstig auf das Familienleben auswirken. Zum Beispiel, wenn zwei oder mehrere Mitglieder sich verbünden und die übrigen im Ungewissen lassen.

Schutz der Privatsphäre

Es gilt zu bedenken, dass verheimlichte Tatsachen nicht in jedem Fall ein Störfaktor für die Familiengemeinschaft bedeuten.

«Sie können auch ein Schutz sein. Beispiele: Um sich nicht verletzenden Fragen auszusetzen, verschweigt die Familie nach aussen eine Krebsdiagnose, eine fristlose Kündigung oder eine Lohnpfändung. Oder man greift zu einer Notlüge.»
Adrian Zeller

Im Weiteren gehören Geheimnisse zur Entwicklung von Jugendlichen, irgendwann wollen sie nicht mehr jedes Erlebnis und jedes Gefühl den Eltern offenbaren. Dies gehört zum normalen Loslösungsprozess auf dem Weg zu mehr Autonomie und Selbstständigkeit. Um die richtige Balance zu finden, braucht es Fingerspitzengefühl: Die Eltern möchten mit ihren Fragen ihre Fürsorglichkeit zeigen, die Söhne und die Töchter ihrerseits fühlen sich zu sehr bevormundet. Es braucht die sensible Aufmerksamkeit der Eltern, um zu spüren, wenn ihr Kind ein Geheimnis mit sich herumträgt, das es zunehmend quält, etwa ausgeprägte Prüfungsangst.

Rechtzeitig Rat in Anspruch nehmen

Professor Michael Slepian aus den USA beschäftigt sich mit Geheimnissen in Familien. In seinen wissenschaftlichen Untersuchungen hat er vier Hauptgründe für das Verschweigen von Unangenehmem erkannt, sie lauten:

  • der Schutz des eigenen Ansehens
  • das Vermeiden von Kritik und von Konflikten
  • die Angst vor dem Verlust einer Beziehung
  • das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Akzeptanz in der Familiengemeinschaft

Bezüglich des Umgangs mit Verschwiegenem in der Familie gibt es kein Patentrezept, die Umstände und die Familien sind zu unterschiedlich. Ein plötzlich gelüftetes Geheimnis kann zu viel Unruhe, Verunsicherung und gar zu Kontaktabbrüchen führen.

«Wenn unter dem Deckel gehaltene Tatsachen immer mehr belasten, sollte man sich kompetenten Rat holen – bei Familien- und Sozialberatungsstellen oder bei der Hausärztin.»
Adrian Zeller

Nicht zu lange schweigen

Familiengeheimnisse, die immer mehr zur Belastung werden, sind zum Beispiel der erhöhte Cannabiskonsum eines Familienmitgliedes, ein immer grösser werdender Schuldenberg oder unerklärliche Verhaltensveränderungen, wie etwa zunehmende Aggressivität oder Vergesslichkeit. Auch wenn die Tochter oder der Sohn mit Freunden verkehrt, die einen schlechten Einfluss haben, sollte man nicht zu lange schweigen.

Verpasst man den richtigen Zeitpunkt, um sich Rat zu suchen, leidet die eigene Lebensqualität. Die Lösung der Probleme wird zunehmend schwieriger. Der Beratungsdienst «Die Dargebotene Hand» (Tel. 143) ist eine diskrete Kontaktstelle. Bei ihr kann man sich anonym über Sorgen und Geheimnisse in der Familie aussprechen.