Nicht alle Menschen sind gleichermassen sensibel. Die sogenannten «Hochsensiblen» sind es offenbar etwas stärker. Das hat Folgen.

Das Phänomen «Hochsensibilität»

Ein grosses Warenhaus, künstliches Licht, Menschengedränge, Musik im Hintergrund und ein riesiges Angebot an Waren … Was für die meisten Menschen anregend und spannend sein kann, ist für Hochsensible eine echte Herausforderung. Es sind genau solche Situationen, die sie nur schlecht aushalten. Sie müssen dann schon sehr bald fast fluchtartig das Warenhaus verlassen – und sich um die nächste Hausecke ein ruhiges Plätzchen suchen, wo sie wieder durchatmen und ihre unzähligen Eindrücke verarbeiten können.

Was also für die meisten eine «normale» Situation ist, liegt hochsensiblen Personen gar nicht und kann für sie eine riesige Anstrengung sein. Viel lieber diskutieren sie über den Sinn des Lebens, über Spiritualität oder Philosophie. All das gibt ihnen die notwendige Nahrung für ihre Seele. Oberflächliche Gespräche betrachten sie als reine Zeitverschwendung.

«Bist du aber empfindlich!» Solche und ähnliche «Verurteilungen» müssen hochsensible Menschen immer wieder entgegennehmen; und nicht wenige davon glauben irgendwann, dass mit ihnen irgendetwas nicht stimme. Doch dem ist nicht so. Denn:

Rund 20 Prozent aller Menschen weltweit gelten als hochsensibel.

So viel sei vorweggenommen: Hochsensibilität ist keine Krankheit, man spricht von einem «psychologischen Phänomen». Und sicher ist auch:

«Hochsensibilität hat nicht nur Nachteile, sondern auch viele Vorteile. Entsprechend kann es nicht das Ziel sein, sie zu bekämpfen (das ist eh nicht möglich), sondern es muss darum gehen, damit im Alltag umgehen zu können.»
Albin Rohrer

Tief berührt von Musik und Kunst

Aber auch scheinbar Angenehmes kann für hochsensible Personen schwierig werden: zum Beispiel dann, wenn sie vom Partner oder von der Partnerin mit Streicheleinheiten und Zärtlichkeiten eingedeckt werden. Aus ihrem subjektiven Empfinden heraus kann dies dann schon bald ein Zuviel an Berührungen sein. Was bei vielen Menschen positive Gefühle weckt, ist für Hochsensible manchmal fast nicht auszuhalten. Es ist schnell schon zu viel des Guten.

Doch was das Gute betrifft: Hochsensibel zu sein hat nicht nur schwierige, sondern auch sehr erfreuliche Seiten. Hochsensible Personen können sich zum Beispiel von einem Musikstück, einem Bild, einem Kunstwerk oder von einem Anblick in der Natur (ein Wald, ein Strand, ein Sonnenuntergang) unglaublich tief berühren lassen. So tief, dass manchmal sogar Tränen fliessen. Freudentränen! Wen wundert’s, dass unter Komponisten, Musikerinnen, Malern und anderen Künstlerinnen und Künstlern sehr viele Hochsensible zu finden sind.

Nur sensibel oder hochsensibel?

Sind Sie hochsensibel?

Falls Sie nicht sicher sind, ob auch Sie zu den Hochsensiblen gehören, hier die wichtigsten Merkmale:

Menschenansammlungen sind Ihnen unangenehm. Sie sind geräusch- und lichtempfindlich. Sie haben eine intensive Gefühlswelt. Schon ein leichter Hunger kann Sie aus dem Gleichgewicht bringen. Sie können sich sehr gut in andere hineinversetzen. Sie gehen schlechten Nachrichten lieber aus dem Weg. Die Natur ist Ihnen sehr wichtig. Sie fühlen sich öfters einsam und/oder unverstanden und brauchen oft Rückzug und viel Ruhe. Ausserdem sind Sie eher schüchtern, neigen zu Allergien und sind schmerzempfindlich.

Sie sind feinmotorisch sehr begabt, stellen sich öfters die Frage nach dem Sinn des Lebens, führen gerne philosophische Gespräche und sind tiefgründig und spirituell interessiert. Hochsensible Menschen haben sehr viel Fantasie, streben oft nach Perfektion, haben ein starkes Interesse an Musik, Literatur, Farben, Formen und lassen sich dadurch auch tief berühren. Und sie benötigen relativ viel Schlaf.

Schnell überreizt

Das Thema «Hochsensibilität» wurde erstmals 1997 von der amerikanischen Psychologin Elaine Aron erforscht. Sie prägte den Begriff «HSP» (Highly Sensitive Person). Bislang gibt es noch wenig Forschung, die sich mit den Ursachen dieses Phänomens beschäftigt. Da die Hochsensibilität keine psychische Erkrankung ist, interessiert sich die Psychiatrie nicht speziell für deren Erforschung.

Dennoch lassen Studien vermuten, dass sich die Hochsensibilität in der neurologischen Konstitution des Gehirns erklären lässt. Offenbar wirken äussere Eindrücke auf hochsensible Personen viel intensiver als auf «normale» Personen. Deshalb sind hochsensible Personen deutlich schneller überreizt, ihr Gemüt kann nicht so viel aufnehmen wie das «normaler» Menschen.

Für Hochsensible kann es schwierig werden, wenn ihre Bedürfnisse und ihre Eigenart mit Füssen getreten werden: «Du bist aber schon extrem empfindlich …» Solche Aussagen führen dazu, dass ein hochsensibler Mensch ebenfalls das Gefühl bekommt, nicht ernst genommen zu werden – und sich dann eher zurückzieht. Es ist sehr wichtig, dass sich hochsensible Personen ihrer Eigenart bewusst sind und versuchen, damit sorgfältig umzugehen. Umso schöner wäre es natürlich, wenn weniger sensible Personen mehr Verständnis für Hochsensible aufbringen könnten.

Wie mit Hochsensibilität leben?

Damit Hochsensible einigermassen unbeschadet durch den Alltag kommen, brauchen sie ein hohes Mass an Selbstverantwortung. Sie müssen sehr bewusst und sorgsam mit sich selbst umgehen, damit sie nicht zu leiden beginnen: Wo sind meine Grenzen? Wo sind meine Möglichkeiten? Wer oder was tut mir gut? Wer oder was erschöpft mich? Wie kann ich mit nicht hochsensiblen Menschen, die mir wichtig sind, trotzdem eine für beide Seiten bereichernde Beziehung gestalten? Was kann ich tun, damit ich auch Erschöpfendes und Anstrengendes in Angriff nehmen kann, wenn es mir wichtig ist?

Selbstverantwortung bedeutet, nach den eigenen Möglichkeiten zu leben. Es gilt, dafür zu sorgen, dass es einem gut geht und sich auf erschöpfende Situationen nur dosiert einzulassen: zum Beispiel eine Party etwas früher wieder zu verlassen oder Menschen, die einem nicht so guttun, möglichst aus dem Weg zu gehen. Hochsensible meiden am besten auch Veranstaltungen, wo Lärm und Gedränge herrscht; sie bevorzugen stillere Orte. Sehr gerne sind Hochsensible in der Natur, an einem Fluss oder in den Bergen.

«Wenn hochsensible Menschen sich ihrer Eigenart bewusst sind, fällt es ihnen leichter, auch die positiven Seiten der Hochsensibilität zu erleben und zu geniessen.»
Albin Rohrer

Dazu gehört zum Beispiel, es zu schätzen, dass sie da, wo andere gar nichts spüren, sehen oder hören, imstande sind, Grosses oder Wunderbares wahrzunehmen: wie bereits erwähnt in der Natur, aber auch in der Literatur, in der Kunst und vor allem in der Musik. So spüren Hochsensible meist ziemlich genau, dass viele Komponisten ebenfalls hochsensibel waren und dies in der Musik auf eine wunderbare Weise zum Ausdruck kommt. Wer sich von den Klängen eines Nocturnes von Frédéric Chopin berühren lässt, wer Lieder von Simon & Garfunkel mag oder sich von den Songs von Leonard Cohen angesprochen fühlt, der kommt der Sache mit der Hochsensibilität schon ziemlich nahe …