Sich in jungen Jahren auf nur eine Sportart zu fokussieren und sie intensiv zu trainieren, erhöht das Risiko für Verletzungen und kann die körperliche Entwicklung stören. Mehr Abwechslung und weniger Ehrgeiz helfen.

Gefährlicher Trend: zu frühe Spezialisierung

Sport ist gut für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Sie sollen möglichst früh Spass am Sport und an sozialen Kontakten finden, die Motorik trainieren, lernen, sich zu bewegen, Regeln im Wettkampf zu akzeptieren und einen gesunden Ehrgeiz zu entwickeln. Allerdings gilt auch hier wie im restlichen Leben: Die richtige Dosis entscheidet.

Denn Studien zeigen: Wer sich zu früh auf eine einzelne Sportart festlegt und dafür intensiv trainiert, kann körperliche Schäden davontragen. Marcus Mumme ist Arzt für Sportorthopädie am Universitäts-Kinderspital beider Basel und kennt die Folgen:

«Meine Sprechstunde ist voll von Kindern und Jugendlichen mit Sportverletzungen und Überlastungen; und mein Eindruck ist klar, dass es zunimmt.»
Marcus Mumme
Leitender Arzt Orthopädie, UKBB

Seiner Meinung nach sollte eine Spezialisierung nicht vor dem 12. Lebensjahr stattfinden. Tatsächlich sieht man in den Vereinen aber Kinder, die sich in noch jungen Jahren bereits nur mit Turnen, Fussball, Hockey oder Tennis beschäftigen und zweimal die Woche dafür trainieren, um dann am Wochenende noch an einem Turnierspiel teilzunehmen.

Zu viel Sport stört die Entwicklung

Wieviel Sport ist zu viel?

«Die sportliche Aktivität sollte in diesem Alter besser auf mehrere Sportarten und Aktivitäten verteilt sein», rät Marcus Mumme. Eltern vertrauen verständlicherweise dem/der Trainer*in und dem Verein. Doch, so Mumme, hier fehle oft das Wissen über die Besonderheiten der wachsenden und damit vor allem in der Pubertät besonders anfälligen Athlet*innen – und eine etablierte, speziell auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen ausgerichtete sportmedizinische Betreuung. Wichtige Massnahmen zur Verletzungsprävention oder ein korrektes Warm-up seien teilweise nur begrenzt ins Training integriert oder fehlten ganz.

Noch länger vielfältig sportlich unterwegs zu sein, sei dabei noch nicht einmal ein Nachteil. «Interessanterweise haben sich Top-Athlet*innen mehrheitlich erst spät spezialisiert, im Vergleich zu den weniger erfolgreichen, die sich häufig früh spezialisiert haben», sagt Mumme.

Eltern könnten sich zumindest an einer einfachen Regel orientieren, wann der Sport für ihren Nachwuchs zu viel sei:

«Ein Hinweis für ein Risiko ist, wenn die Trainingsaktivität in Stunden pro Woche das Alter des Kindes übersteigt.»
Marcus Mumme
Leitender Arzt Orthopädie, UKBB

Tatsächlich seien aber Trainingszeiten von 16 bis 20 Stunden pro Woche auf den Sportplätzen keine Seltenheit.

Zu viel Sport stört die Entwicklung

Erhöhte Verletzungs- und Verschleissgefahr

Studien bestätigen die erhöhte Verletzungs- und Verschleissgefahr bei jungen, auf nur eine Sportart spezialisierten Sportler*innen. Seit Jahren beschäftigt sich Neeru Jayanthi vom US-amerikanischen Loyola University Medical Center in Maywood, Illinois, sehr intensiv mit dem Problem. In seiner letzten grossen Studie1 dazu begleitete er drei Jahre lang rund 580 Sportler*innen zwischen 7 und 18 Jahren und fragte sie regelmässig nach Verletzungen.

Dabei zeigte sich: Das grösste Risiko für allgemeine und Überlastungsverletzungen tragen diejenigen Sportler*innen, die sich bereits früh auf einen Sport spezialisiert hatten; deren wöchentliche für Sport aufgewendete Zeit in Stunden das Alter des Kindes überstieg; die mehr als doppelt so viel Zeit in der Woche für organisierten Sport statt für freies Spiel wie ungefährliche Ballspiele oder Schwimmen aufwendeten; und die im Jahr mehr als 8 Monate für den Sport trainierten.

«Sie hatten ein zwischen 50 bis 70 Prozent höheres Verletzungsrisiko als ihre weniger hart und einseitig trainierenden Kolleg*innen – und das auch dann, wenn nur einer der erwähnten Risikopunkte auf sie zutraf.»
Andreas Grote

Der Grund: Sie trainieren und spielen mit grösserer Intensität und mit ehrgeizigeren Zielen als im freien Spiel. Und sie verbringen sehr viel Zeit mit dem Training und Ausüben ihres Sports.

Ausserdem zeigte sich bei Jayanthis Untersuchung, dass Mädchen grundsätzlich eher von Überlastungsverletzungen bei zu früher Spezialisierung betroffen waren als Jungs.

Zu viel Sport stört die Entwicklung

Mögliche Verletzungen durch Überbelastung

Während normale und kleinere Verletzungen sich durch Rückenschmerzen oder Knieschmerzen zeigten, kam es bei den von Jayanthi beobachteten Sportler*innen durch Überlastung beispielsweise zu einem Schulter-Enge-Syndrom oder, vor allem bei laufbetonten Sportarten, zu einer auftretenden Reizung der Kniescheibensehne. Ernsthafte Verletzungen, die jemanden zwischen einem und sechs Monaten ausser Gefecht setzen, waren zwar seltener. Hier handelte es sich dann aber beispielsweise um Veränderungen am Knieknorpel oder um Überlastungsbrüche der Wirbelsäule.

In einer früheren Studie von Jayanthi zeigte sich: Besonders bei Sportarten, wo die erforderliche Technik erst durch ständig wiederholte Bewegungsmuster beherrscht wird, seien die Verletzungen am häufigsten. Junge Tennisspieler*innen, die 75 Prozent ihrer Sportzeit nur Tennis spielten, hatten in Jayanthis Untersuchung 1,5-mal so häufig Verletzungen wie Sportler*innen, die neben Tennis auch noch andere Sportarten betrieben.

Gesunde Auszeiten einplanen

Jayanthi empfiehlt, dass jüngere Sportler*innen besser medizinisch begleitet werden sollten, wenn sie 11 oder mehr Stunden pro Woche in einem einzelnen Sport trainieren oder mehr als 20 Stunden die Woche insgesamt Sport treiben. Hinzu kommt: Mindestens ein Tag pro Woche sollte trainingsfrei sein. Auch eine komplette Auszeit von ein bis zwei Wochen alle paar Monate helfe dem Körper, sich zu regenerieren.

Mehr Abwechslung

Auch der Sportmediziner Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule Köln hält frühzeitige Spezialisierung für absolut falsch: «Das nimmt dem Körper die Möglichkeit, die notwendigen Entwicklungsprozesse umfassend zu durchlaufen.» Das Erlernen von wenigen und einseitigen Bewegungsmustern gehe mit dem Verlust anderer Fähigkeiten einher.

«Eine ständige Wiederholung beim noch nicht ausgewachsenen Organismus ist daher immer mit einer erhöhten Verletzungsanfälligkeit bis hin zu Wachstumsstörungen verbunden.»
Ingo Froböse
Sportmediziner, Sporthochschule Köln

Da ausserdem immer nur das gleiche Gewebe strapaziert werde, komme es vor allem bei Sehnen, Bändern, Gelenkkapseln und Knochen zu chronischen Entzündungen, ja sogar zu Ermüdungsbrüchen. Die ständige Belastung könne im schlimmsten Fall das Knochenwachstum behindern, oder es komme zu ähnlichen Veränderungen an Gelenken wie bei Arthritis oder zur Verkürzung der Beinmuskulatur. Ausserdem würden die Muskeln einseitig aufgebaut, was zu Fehlbelastungen führe. Bei anderen Sportarten wirken junge Sportler*innen daher manchmal sogar etwas unbeholfen.

Freies Spiel statt Spezialisierung

Bis zum 12. Lebensjahr solle daher gar keine Spezialisierung erfolgen, rät auch Froböse. Freies, ungezwungenes Spiel sei hier das Wichtigste. Danach könnten ein, besser zwei Sportarten hinzugenommen werden. Ab 16 Jahren könne dann eine Spezialisierung erfolgen, da der Organismus weitgehend ausgewachsen sei und höhere Belastungen toleriere. «Eltern müssen hier auch Vorbild sein, ihre Kinder in spielerischer Weise ohne Leistungsdruck vielfältig Sport treiben und ausprobieren lassen und auch ruhig selbst mitmachen», rät der Sportmediziner.

1 Neeru Jayanthi, Risk of Injuries Associated With Sport Specialization and Intense Training Patterns in Young Athletes: A Longitudinal Clinical Case-Con- trol Study, erschienen in: Orthopaedic Journal of Sports Medicine, June 2020, https://bit.ly/3Qxe3uN