Zum Glück nicht wirklich – aber das gibt einen Einblick und Eindruck: Via Rollenspiel erleben Jugendliche, wie es sich anfühlt, alles hinter sich zu lassen und zu flüchten. Mehr als eine flüchtige Erfahrung?
Innert einer Minute müssen die Jugendlichen entscheiden, was sie in die ungewisse Zukunft mitnehmen. Denn der Alarm schrillt. Er kündigt den Angriff an. Die Teenager werden gefangengenommen, in einen Bunker gesperrt, verhört. Sie werden vor diese Frage gestellt: jemand anderen verraten, um sich selber zu retten?
Sie kriechen über ein Minenfeld an die Grenze. Dort werden ihnen die Wertgegenstände abgenommen – ob sie reichen, um die Flucht zu finanzieren? Ein Formular voller Hieroglyphen müssen die Jugendlichen unterschreiben, wenn sie ihre Chance auf ein zweites Leben wahren wollen.
Dies sind Stationen einer Flucht. Einer simulierten Flucht: Zwar bleiben die Teenager auf dem Schulplatz und im Schulhaus. Doch die Szenen sind nahe an der Realität. Sie sind Teil des Bildungsangebotes der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) für Jugendliche zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren.
Denn etliche junge Menschen leben nach ihrer Flucht in der Schweiz: So haben 2022 fast 3000 Jugendliche, die alleine hierher geflüchtet sind, ein Asylgesuch gestellt – neuer Rekord. Fast immer sind es junge Männer, oft sehr jung: 16- oder 17-jährig. Viele der jungen Flüchtlinge stammen aus Afghanistan. Manchmal sind sie über Jahre unterwegs.
Diese jungen Flüchtlinge erleben in echt, wie es ist, Ohnmacht und Willkür ausgeliefert zu sein – beim Rollenspiel ist es eine Annäherung. Dieser Stoff sei nicht zu happig, heisst es bei der SFH. «Diese Frage haben wir mit einem psychologischen Gutachten abklären lassen. Zudem informieren wir die Eltern und Lehrpersonen vorab.» Niemand werde zum Mitmachen gezwungen. Die Jugendlichen könnten jederzeit aussteigen, wenn es ihnen zu viel wird. Oder sagen, dass sie nicht mitmachen wollen.
Dieses Angebot haben zwei Jugendliche aus der Ukraine angenommen. Ihre Erlebnisse sind noch zu frisch. Kaum vernarbte Wunden und Verletzungen aufzureissen, ist nicht das Ziel. Vielmehr geht es darum, Jugendliche zu sensibilisieren, zum Nachdenken zu animieren, zu informieren.
Um dies zu gewährleisten, werden die einzelnen Stationen und Fragestellungen danach in der Gruppe diskutiert und besprochen. Damit die Jugendlichen nicht im luftleeren Raum sind, sondern aufgefangen werden. Um zu verstehen, einzuordnen: die äusseren Ereignisse – und das, was innerlich abgeht.
Das Interesse der Jugendlichen ist aufgrund des Ukraine-Konfliktes gross. Damit ist das Thema Flucht nahe an sie herangerückt. Es ist der erste Krieg, den sie so nah mitbekommen. Auch weil ukrainische Jugendliche in den Schulen aufgenommen worden sind.
Die Flucht mitsimuliert hat die 16-jährige Gina Papis. Wie war das?
Gina Papis: Jene ganz am Anfang: als wir überfallen und uns die Augen verbunden wurden.
Weil uns so schnell und so überraschend die Augen verbunden worden sind. Zwar war mir bewusst, wo ich in der eigentlichen Realität bin. Doch es war vollkommen ungewiss, was nun passieren würde. Ich verlor die Kontrolle. Das ist happig – auch dann, wenn man, wie ich, kein Kontrollfreak ist.
Ich finde sie für unser Alter angemessen. Eine spannende Erfahrung. Es gab sogar lustige Momente.
Wir waren im Bunker. Es war ganz dunkel. Da stand mir jemand auf den Fuss. Ich erschrak, mir blieb fast das Herz stehen. Da mussten wir beide lachen. Wohl auch wegen der Spannung, die in der Luft lag. Zu lachen und zu kichern, löste diese Anspannung und nahm dem Ganzen die Dramatik.
Mit dieser Simulation habe ich erlebt, wie es sich in etwa anfühlt, wenn man auf der Flucht ist. Super ist, dass man miteinbezogen wird und mitmachen kann.