alle Fotos: Esther von Siebenthal

Vor zwölf Jahren wünschte sich der ältere Sohn von Esther von Siebenthal Kaninchen. Seither ist sie im wahrsten Sinne des Wortes eine Spinnerin. Als die Angorakaninchen Familienmitglieder wurden, war das der Startschuss für eine grosse Liebe und Leidenschaft …

An einem extrem winterlichen Dienstag sitze ich im Regionalzug von Bern nach Solothurn. Die Landschaft präsentiert sich einheitlich in Weiss – fast wie in einem Märchen. So stelle ich mir Sibirien vor. Die Natur entschleunigt das Leben. Niemand ist mehr schnell unterwegs, was ich in diesem Moment sehr geniesse. Esther von Siebenthal erwartet mich am Bahnhof in Solothurn. Es schneit und schneit, und der zehnminütige Fussmarsch verwandelt uns ihn Schneefrauen.

Die behagliche Wärme im schönen Zuhause der Pfarrersfrau tut gut. Meine erste Frage ist klar, schliesslich dreht sich die nächste Stunde um ein einzigartiges Naturmaterial.

Frau von Siebenthal, was fasziniert Sie an Wolle?

Seit ich denken kann, fasziniert mich dieses wunderbare Material. Ich hatte eine Tante in St. Gallen, die einen kleinen Laden in ihrer Wohnung besass. Ich liebte es, als Kind bei ihr zu sein und beim Beraten der Kundinnen meine Ohren zu spitzen. Wolle ist extrem vielfältig; es gibt unzählige Gestaltungsmöglichkeiten und ich schätze die Farbenvielfalt. Mir liegt viel daran, praktische Dinge zu schaffen, und vor allem bei den Babysachen ist es mir sehr wichtig, dass sie sitzen und passen. Meine Kreationen sind fürs Gemüt, für die Seele und für den Intellekt – einfach zum Tragen und Geniessen.

Sie haben Ihre Leidenschaft nicht zum Beruf gemacht?

Nein, mein Vater riet mir immer davon ab. In der Schule hatte ich im Fach Handarbeiten immer die Note 6. Meine Lehrerin förderte mich zusätzlich. Diese Fingerfertigkeit machte mir grossen Spass. Ich entschied mich dann aber für einen anderen Beruf und wurde Hebamme. Heute arbeite ich als Pflegefachfrau und Ausbildnerin bei der Spitex Region Bern Nord. So konnte ich meine Leidenschaft mit meinem Beruf verschmelzen. Bei den Kreationen verbinde ich beide Tätigkeiten. Ich bin heute sehr zufrieden und versöhnt, dass alles ineinanderfliesst und ich meine Leidenschaft in meinem Beruf pflegen und meinen Beruf mit meiner Passion verbinden kann: Medizin, Berufsbildung, pädagogische Aspekte mit der Wolle und im Beruf und das Weitergeben schöner Materialien.

Das ist wie der berühmte Batzen und das Weggli. Ist es das Geheimrezept, beides zu verbinden?

Ja, irgendwie schon. Es sind verschiedene Welten, die ich leben darf. Sie lassen sich wie gesagt verschmelzen und machen mich sehr zufrieden. Vor meiner Tätigkeit als Pflegefachfrau bei der Spitex (Ausbildnerin) war ich zehn Jahre mit der Ambulanz unterwegs. Das war nicht immer nur schön, weil ich mit vielen Schicksalen und viel Leid konfrontiert wurde. Meine Liebe zur Wolle hat mir in dieser Zeit und auch heute im Spitexalltag als Ausgleich zur Entspannung und Verarbeitung des Erlebten im Berufsalltag sehr geholfen. Die Kombination zwischen Teamarbeit in unserem harmonischen Team und die Arbeit alleine mit meiner Wolle ist ideal. Während der Basler Herbstmesse, wo ich jedes Jahr einen Stand auf dem Petersplatz habe, geniesse ich ein besonderes Privileg. Das ganze Team, die Team- und Geschäftsleitung ermöglichen mir unbezahlte Ferien zu nehmen. Ich möchte mich an dieser Stelle dafür bedanken.

Seit wann sind Sie eine «Spinnerin»?

Das begann im Jahre 2002. Unser älterer Sohn wünschte sich Kaninchen und schmiedete mit meinem Schwiegervater bereits den Plan, die Ställe zu schreinern. Da Haustiere bekanntlich eine Bereicherung für Familien sein können, das Interesse der Kinder aber irgendwann abflacht, musste ich mich zuerst selber mit dieser Idee befassen. Ein Besuch in einer Buchhandlung war schlussendlich entscheidend: Ich kaufte mir ein Buch über Kaninchenrassen und verweilte am längsten bei den Angorakaninchen. Auch im Internet machte ich mich über diese spezielle Rasse schlau. Via Recherchen in Deutschland bin ich auf den schweizerischen Angorazüchterverein gestossen. Dort erhielt ich wiederum eine Adresse ganz in meiner Nähe. Kurz darauf wurde ich von einem Fachmann in einer halbtägigen Schulung in die Welt der Angorakaninchen eingeführt – und wenig später zogen unsere ersten Langohren in die schönen Ställe von Grossvater und Grosssohn ein.

Foto vom Spinnen
alle Fotos: Esther von Siebenthal

Wann starteten Sie Ihre Angorawolleproduktion?

Wir waren damals vier Frauen, die sich zum Ziel setzten, modische Produkte aus diesem feinen Material zu kreieren. Wir wollten auch farblich Akzente setzen und pröbelten lange an den Färbungsprozessen mit Naturmaterialien. Es war uns wichtig, leuchtende und moderne Farbtöne zu erzielen. Lange arbeiteten wir intensiv – und «nur» für uns. Auf der Zugfahrt nach Luzern zu einer Seidenkammgarnspinnerei sassen wir vier Frauen in einem Abteil, strickten und unterhielten uns über unsere Passion. Eine Frau beobachtete uns und äusserte sich fasziniert über unsere Wolle. Sie wollte sie auf der Stelle kaufen. Wir schenkten ihr einen Knäuel und waren uns einig, dass wir nun unsere Wolle vermarkten müssen. Wir beschlossen, bei der «Creativa» in Zürich einen Stand zu mieten: Das war der Startschuss.

Viel Wolle für wenig Frauen?

Ja, ich habe mittlerweile, nachdem ich immer etwa sechs Kaninchen mein Eigen nennen durfte, selber keine Tiere mehr. Ich beziehe die Wolle aber von Züchtern aus der Schweiz – vor allem aus der Gegend zwischen Olten und Genf – und verarbeite so einiges an Material. Früher wurde die Wolle in Fässern gelagert – manchmal falsch – und wurde so leider zerstört; oder die Kaninchen wurden von ihrer Unterwolle befreit und das Material weggeschmissen. Jetzt haben wir es eigentlich im Griff. Es ist ein schöner Kreislauf, der allen Beteiligten dient.

Erläutern Sie uns Ihre Philosophie rund ums Spinnen.

Spinnen hat für mich ganz viel mit dem Leben zu tun: Beim Spinnen liegt ein grosses «Gnusch» in meinem Schoss. Es sind ganz viele Haare, die in alle Richtungen abstehen. Dann entsteht ein Faden, also etwas Geordnetes. Ich erlebe immer wieder persönlich, dass ich vieles in meinem Leben so ordnen kann.

«Das meditative Treten des Spinnrades, das immer im gleichen Rhythmus stattfinden muss, hilft mir, mein Leben zu ordnen. Alle Fäden liegen in der gleichen Richtung und es entsteht eine Ordnung. Wir sollten ja auch wenn ein Problem ansteht, Ordnung in unsere Gedanken bringen.»
Esther von Siebenthal

Ich bringe beim Spinnen Ordnung in mein Leben und lasse etwas sehr Schönes dabei entstehen, ein wunderbarer Prozess.

Andere joggen oder machen Yoga, ich spinne. Ich merke auch immer wieder, dass mir diese Tätigkeit in meinem Berufsalltag hilft. Ich bin im Beruf voll präsent, dann komme ich in mein Atelier und kann mich hier erholen, obwohl es oft auch viel zu tun gibt.

Beschreiben Sie Ihre Arbeitsschritte. Wie gehen Sie vor?

Zuerst wird das Kaninchen von seiner Unterwolle befreit, ein Prozess, der auch für das Tier wichtig ist, weil die Unterwolle oft verfilzt. Die verfilzte Unterwolle ist unangenehm für das Kaninchen. Dann färbe ich die Wolle. Das hat einen wichtigen Grund: Wenn ich die Wolle zuerst spinne und dann ins Pflanzenfarbbad lege, kann es sein, dass die Färbung wie Batik aussieht. Ich möchte aber eine reine Färbung erzielen. Der Batikeffekt sieht beim gestrickten Endprodukt nach meinem Empfinden unschön aus. Der weitere Schritt ist das «Karden». Heute karde ich meine Wolle allerdings nur noch selten. Dann setze ich mich ans Spinnrad und spinne, dann zwirne ich die Wolle zusammen mit Seide. Danach wird sie gewaschen. Zuletzt entstehen Knäuel à 25 Gramm. Dies ist ein langer Prozess, der sich für mich aber lohnt, weil das Endprodukt sich sehen lassen kann. Mein Mann hat mir in unserem Maiensäss in der Nähe von Gstaad eine Färberei eingerichtet. Dort tauche ich dann jeweils in die Welt der Pflanzen und Wolle ein und lasse mich vom Endprodukt überraschen.

Foto von Gempa und Zora
Die Unterwolle von Gempa und Zora verarbeitete Esther von Siebenthal einst zu wunderbarer Angorawolle. Alle Fotos: Esther von Siebenthal

Der Aufwand ist riesig. Wird das Endprodukt so nicht fast unbezahlbar?

Ich kann meine Arbeit nicht rechnen. Das würde niemand bezahlen. Ich habe mir aber zum Ziel gesetzt, dass meine Wolle bezahlbar sein soll. Meine Babymütze können auch zwei Winter getragen werden. So ist der Preis nicht allzu hoch. Meine Kundschaft ist so zufrieden mit meiner Wolle und den Endprodukten, dass ich bereits ein ganzes Album besitze mit Fotos der Babys und Kinder, die meine Mützen oder Jäckchen tragen. Das ist ein schönes Feedback und für meine Arbeit und meine Seele sehr wichtig. Diese Rückmeldungen sind wie ein Lohn für mich. Ich mache auch etliche Strickpakete mit Anleitung und Material, so können die Frauen die Objekte selber stricken.

Eine Decke als Vorbereitung aufs Baby?

Manchmal werde ich von Kundinnen inspiriert. Einmal besuchte mich eine Mutter mit ihrem Baby. Sie wollte Mützen probieren und nahm ihr Kind aus dem Wagen, eingewickelt in eine vollsynthetische Decke, die mir die Haare zu Berge stehen liess. Das gab mir die Idee, eine Babydecke zu kreieren, die während einer Schwangerschaft nach Anleitung rituell und emotional auf die Geburt vorbereiten kann. Es sind die vierzig Schwangerschaftswochen, – also für jede Woche wird eine Runde gehäkelt. Zusätzlich zur Anleitung wird genau beschrieben, wie weit der Fötus in seiner Entwicklung ist. Auch hier wird wieder das Medizinische mit dem Kreativen verbunden.

Was fühlen Sie bei der Ausübung Ihrer Passion?

Das Faszinierendste an meiner Arbeit ist, dass ich nicht in einen Wollladen gehen muss, um dort einen Knäuel zu kaufen. Von dieser Wolle weiss ich nicht, wie sie entstanden ist. Bei meiner Wolle habe ich den ganzen Prozess – vom Gewinnen der Kaninchenwolle bis zum fertigen Knäuel – selbst erlebt und Einfluss genommen, alles ist durch meine Hand gegangen. Das ist für mich sehr schön und bereitet mir grosse Freude und viel Befriedigung.

Meine Pflanzenfarben haben mich erzogen. Am Anfang hatte ich noch nicht viel Ahnung und arbeitete eigentlich immer nach Rezept. Heute färbe ich nach Gefühl. Mein Erfahrungsschatz ist mittlerweile riesig. Aber manchmal möchte ich einen ganz bestimmten Ton färben, zum Beispiel ein Hellgrün oder ein sattes Pink, was nicht immer gelingt. Nun habe ich herausgefunden, dass das Färben mit Leitungswasser ein anderes Resultat erzielt, als wenn ich Quellwasser verwende. Ich musste lernen, dass ich den Farbton nicht beeinflussen kann. Eine Meisterin des Färbens hat mir folgenden Satz gesagt: «Der Färbeprozess ist erst nach dem Waschen abgeschlossen.» Eine wichtige Erkenntnis für mich und meine Arbeit.

 

Am Ende des Gesprächs tauchen wir in das schöne Atelier ein, paradiesisch für mich. Kleine Kostbarkeiten wie Engel, Hasen, Babymützen, eine gebärende Katze aus Wolle und ganz viel anderes – alles beseelt und mit viel Liebe hergestellt – faszinieren mich! Und dann natürlich die wundervollen Knäuel aus Angora und Seide mit Pflanzen gefärbt! Ich kann Frau von Siebenthal nicht verabschieden, bevor ich Wolle kaufe, um meiner Enkelin Pulswärmer zu stricken.

Nach einem spannenden Gespräch gehe ich wieder in den Winter hinaus. Solothurn ist mittlerweile noch weisser geworden. Und wieder geniesse ich die absolute Ruhe und Lautlosigkeit. Meine selbst gestrickte Stola wärmt mich …

Auch wir machen unser Handwerk mit Leidenschaft!

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