Wir leben in einer Zeit der kulturellen Grenzauflösung. Mix ist angesagt: In der Kunstszene entwickelte sich über Jahrzehnte die Idee der Grenzüberwindung (Cross-over) und die Philosophie zieht mit «Dekonstruktion» nach. Kategorien sollen nicht mehr gelten. Was bedeutet das für Kinder und für die menschliche Entwicklung, wenn diese Idee die biologische Ebene des Leibes erreicht?

Dass die Idee einer geschlechtslosen Erziehung aufkommen kann, sehe ich in einem grösseren Zusammenhang: Häufig beginnt in Kreisen der Kreativen, vielleicht auch der Randständigen, eine Veränderung der gerade gültigen Selbstverständlichkeiten. Die Vorstellungen der Elterngenerationen werden «hinterfragt». In einer Nische der Gesellschaft wird ausprobiert, was bisher undenkbar oder doch ungehörig war. In die Öffentlichkeit gebracht, soll es schockieren. Aber sobald es sich heutzutage als marktgängig erwiesen hat, wird vieles modisch propagiert und so zur neuen Normalität.

Die Macht des Marktes

Dass die Marktfähigkeit zum entscheidenden Kriterium wurde, ist übrigens auch ein Zeitphänomen. Wo früher Glaubenslehren Massstäbe alles Erwünschten respektive Verbotenen setzten – oder politische Ideen von Idealisten getragen und opfervoll erkämpft wurden – scheint heute rasch alles eingepreist zu werden; auch Patriotismus, Genderthemen (inklusive Pornografierung der Gesellschaft) oder Erziehungslehren werden vermarktet und in entsprechende Artikel und Reklame verpackt. Der geldwerte Markt ist zu einem mächtigen Mit-Erzieher herangewachsen.

Die Macht des Marktes entscheidet nicht zuletzt darüber, welche Kunstexperimente «gross rauskommen» und welche bestenfalls in Nischen überleben. So wurde zum Beispiel die «Bohème» marktfähig. Wo früher nur Freaks, Arme oder «Heruntergekommene» in zerrissenen Klamotten rumlaufen konnten (mussten), sind Jugendliche im Moment völlig out, wenn sie nicht für teures Geld künstlich abgeschabte, geschlenzte Kleider kaufen. Wenn vor Jahren Seeleute mit Tattoos als solche geduldet, aber kaum in «feinen Kreisen» auftreten konnten, müssen sich jetzt alle – fast schon als Kinder – tätowieren lassen, um in zu sein. Von Künstlern erfunden, an sich oder ihren Produkten erprobte Rebellion, verharmlost der Markt ihre Extravaganzen zur neuen Normalität.

Postive, aber auch negative Rebellen

Jugendrebellionen werden gleichsam eingekauft. Die evolutionäre Aufgabe von Rebellen und Künstlern ist es, Verkrustungen aufzubrechen. Sie sind Motoren der Entwicklung und bieten manchmal ein riesiges Potential zukünftiger Lebensformen an. Vorstellungen, die nur schon vor dreissig Jahren noch sakrosankt waren, müssen offenbar gar nicht oder doch nicht so sein! Oft werden geheiligte Gewohnheiten aber auch «nur» in ihr Gegenteil verkehrt oder zur neuen Religion pervertiert.

Die positive Kraft von Rebellion gerät und wird dort zur Gefahr, wo sich daraus neue und oft sehr rigorose Verhaltensnormen entwickeln. Wenn die Frauenemanzipation beispielsweise die engen Korsetts und freiheitsberaubenden Vorstellungen des biedermeierlichen Familienbildes sprengen sollten, wurde der Verhaltenskodex bald einmal in ein libertinäres Diktat gegossen. Mädchen und Frauen, die sich als Hausfrauen fantasierten und gar heiraten wollten, waren beschämend unmodern und sexuelle Treue wurde zum Auslaufmodell erklärt.

Bild von fixen Geschlechterrollen

Künstliche Grenzen

Es gibt verschiedene Sorten von Grenzen und Abgrenzungen. Für unsere Orientierung, unser Denken und unsere Intelligenz sind geistig festgelegte Abgrenzungen unverzichtbar: Wir nennen dies «Definieren». Das Wort kommt vom lateinischen finis (Grenze). Wenn wir miteinander reden, sollten wir wissen, worüber wir im Moment sprechen. Das muss oft in ausführlicher Diskussion geklärt werden, um nicht in babylonischem Durcheinander und Gequatsche zu enden. Wer sich an die Sendung «Arena» gemahnt fühlt, hat mich verstanden.

Auch für die Organisation des Zusammenlebens brauchen wir Grenzen, und diese müssen einigermassen stabil, klar bezeichnet und anerkannt sein. Nicht überall kann (und soll) dasselbe gelten: Sprachtraditionen, philosophische und religiöse Vorstellungen entwickeln sich überall parallel und durcheinander. Um einigermassen friedlich und vor allem sicher zu leben, sollten wir wissen, was wo gilt. Um uns in der Fremde zu orientieren, müssen wir wiederum wissen, in welchem Land wir reisen und welche Regeln, Werte und Gewohnheiten hier normal sind.

Andernorts ist es anders, das sollten wir zunächst wertungsfrei anerkennen. Die Orte unterscheiden sich; zwar ist die Grenze weder natur- noch gottgegeben, sondern prinzipiell künstlich – aber trotzdem real und wirkmächtig. Diese Grenzen, die Begriffe, Definitionen und Territorien sind von Menschen geschaffen und verhandelbar. Sie ändern sich laufend, leider oft auch in Kämpfen. Wer nicht reden kann, braucht Gewalt. Wo Mächtige (und seien es Erziehende) nicht mit sich reden lassen, kommt es zu Revolten, Aufständen, Machtkämpfen und Kriegen.

Natürliche Grenzen …

Dank unserer menschlichen Fähigkeit, herkömmliche Begrenzungen im Denken, im Experimentieren und im Forschen immer wieder auszuweiten, entdeckt die Menschheit immer wieder neue Formen, wie über Grenzen hinweg kommuniziert wird. Wenn eine Maispflanze einer anderen mitteilt, dass sie von einem Schädling befallen wird, muss sie dazu ihre Abgrenzung aber nicht auflösen; nur wenn diese erhalten bleibt, kann sie sich so entwickeln, wie es ihrer inneren Anlage entspricht. Natürliche Grenzen sind nicht verhandelbar, sondern eine Frage über Leben und Tod. Natürliche Grenzen sind also von künstlichen grundsätzlich zu unterscheiden. Nur wo sich Leben innerhalb seiner Grenzen entfalten kann, bleibt es erhalten.

Individuen kommunizieren miteinander über ihre Grenzen hinaus. Nur wo die Grenze des andern unangetastet bleibt, gibt es einen Austausch zwischen beiden. Lösen sich die Grenzen etwa in einer Fangruppe zwischen den Individuen auf, entsteht eine Masse, mit der niemand kommunizieren kann. Zwar können solche Entgrenzungserlebnisse für Teilnehmende ekstatisch sein, aber als Dauerzustand taugen sie nicht zum Leben.

… und der Persönlichkeitskern

Menschen sind natürlich viel komplexere Wesen als Maispflanzen. Sie können sich über ihre Begrenztheit hinaus in andere Wesen einfühlen. Auch dabei lösen wir unsere Grenzen aber nicht auf! Wir bleiben in unserem Inneren – gleichsam als Kern – dieselben. Grosse Schwierigkeiten oder gar Störungen drohen, wenn Selbstbild und Selbstgefühle sich auflösen, wenn jemand seine leiblichen Grenzen nicht mehr richtig spürt oder seine Selbstgewissheit über den inneren Kern zerfällt.

«Innerlich setzen wir uns – ab spätestens dem Kindergartenalter – mit diesem Persönlichkeitskern ständig auseinander: Wer bin ich? Der Zeitpunkt fällt zusammen mit dem Bewusstwerden, dass Kind nicht gleich Kind ist und ich ein Bub respektive ein Mädchen bin.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Wir können das ja auch im Spiegel sehen. Als geistig-leibliche Doppelwesen sind wir einerseits in unserem Körper festgelegt. Unser Verhalten und unser Denken werden zu einem guten Teil von Hormonen gesteuert. Wir sind und bewegen uns in diesen Grenzen, wie Verhaltens- und Hirnforschung nachweisen. Aber wir sind auch wieder nicht gänzlich Gefangene des Leibes! Wir können unsere Grenzen übersteigen. Zudem wirken unser Bewusstsein und unsere Umgebung auf unseren Körper ein: Fantasien, Substanzen (wie Essen, Medikamente, Drogen), Normen und andere Vorstellungen steuern unser Verhalten mit. Sie beeinflussen auch, ob Hormone ausgeschüttet oder zurückgehalten werden. Alle diese Einflussnahmen brechen zusammen, physisch, wenn wir die Abgrenzungen zerstören, psychisch, wenn wir sie leugnen.

Bild eines Toilettensymboles für jedes Geschlecht

Der biologische Normalfall

Es gibt gegenwärtig gesellschaftliche Trends, die Bedeutung von Grenzen nicht zu verstehen; so auch die Geschlechtsdifferenz. Teils werden sie aktiv geleugnet, teils wenig bewusst ignoriert. Tatsächlich gibt es auch in der Natur nicht nur ein Entweder-oder: Die Abgrenzung zwischen männlich und weiblich ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich dominant ausgeprägt. Und es gibt Mischformen, die schwierig zuzuordnen sind; dennoch bildet letztere Gruppe eine Ausnahme. Im Kern bleibt immer die biologische Tatsache bestehen, dass nur Frauen Kinder gebären und nur Männer sie zeugen können. Letzteres verunsichert allerdings die Männer, wenn sie – ein tolles Geschäftsmodell – durch Samenbanken ersetzt und durch das Frauenrecht auf den eigenen Bauch entmündigt werden sollen. Trotzdem: Der biologische Normalfall – das heisst, die statistisch weit überwiegende Mehrheit der Menschen – ist weiblich oder männlich angelegt.

Geschlechtslos?

Eine völlig andere Ebene ist jedoch, was wir gesellschaftlich mit dieser Dualität verbinden. Verhaltensnormen sind über weite Strecken künstlich. Dass nur die Mädchen Kinder im Bauch tragen können, erfahren Buben und Mädchen aber meist im frühen Alter. Die Rolle der Buben bleibt dabei für viele ein Geheimnis.

Aus diesem Keim im Fantasieleben des Kindes entwickelt sich die Suche nach dem adäquaten Leben. Vielleicht können Mädchen da besser schlafen, weil sie ihren Wert in sich selber wissen; Buben müssen ihn irgendwo ausserhalb suchen. Besser dran sind beide, wenn sie ihr jeweiliges Geschlecht als Tatsache akzeptieren können. Die Erziehung kann hier helfen oder behindern.

Fragen tauchen bei jedem Kind auf: Muss ich mich auf eine Genderrolle reduzieren lassen (wie in einigen Kulturen noch heute und bei uns als Bürgerfrau bis noch weit ins letzte Jahrhundert)? Kann ich auch anders werden? Wie? Geht das nur, wenn ich biologisch eine Änderung vornehme? Will ich gesellschaftlich Rollen tauschen, missachten, dagegen rebellieren oder mich einfügen?

Bild eines Jungen, der mit einer Puppe spielt

Viele Jungen und Mädchen träumen sich früh ins andere Geschlecht: Gebärneid ist wohl ebenso häufig wie Penisneid. Adoleszente sind sehr oft unsicher, ob sie mit ihrem Geschlecht glücklich sind respektive werden können: Im Alter der Rollen- und Selbstbildauflösung, das dem Puppenstadium des Schmetterlings gleicht, wird auch der Bezug zum biologischen Leib neu geordnet. In der menschlichen Fantasie ist alles möglich; in der menschlichen Natur gibt es Geschlechtslosigkeit nur als Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Pippi Langstrumpf muss sich nicht umoperieren lassen!

Die reale – oder nur die angebliche? – Auflösung der gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen hat Erzieherinnen und Erzieher in Unsicherheit gestürzt. Es gilt nicht mehr, was noch vor einigen Jahrzehnten unhinterfragt jeder und jedem klar war. In der Genderdiskussion werden unglücklicherweise oftmals die Ebenen vermischt. Manche haben es nicht bemerkt, andere die naturgegebene Abgrenzung bewusst angegriffen. Aber diese biologische Grenze zwischen den Geschlechtern lässt sich nicht auflösen, sie lässt sich nur verleugnen; und das ist ein gesellschaftliches Problem.

Mädchen und Buben sollen ihre Lebensvorstellungen leben können, ohne dass ihre Geschlechtsidentität in Frage gestellt wird! Auch innerhalb ihrer Geschlechtsidentität gibt es – zum Glück für die Entwicklung der Menschheit – sehr unterschiedliche Anlagen, Präferenzen und Verhaltensmuster.

«Die Rollenbilder – für Mädchen und gerade auch für Buben – müssen variabler und variantenreicher werden, ohne dass die Kernidentität in Zweifel gerät.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Ein wildes Mädchen, das sich mit Pippi identifiziert, darf, ja soll ein Mädchen bleiben. Aber nicht alle müssen Pippis werden! So dumme Sprüche wie «sie ist ein halber Bub» können falsche Zweifel auslösen. Auch die «Heulsuse» ist als Etikett nicht mehr zu gebrauchen, weder für Mädchen noch viel weniger für Buben. Sie gehören nicht bloss in die Mottenkiste, sondern in den Schredder.

Bild eines Mädchens, verkleidet wie Pippi Langstrumpf

Geschlechtslose Erziehung?

Was wäre der Sinn dahinter? Wollte man die Biologie belehren oder den Körper abschaffen? Jedenfalls liesse die Tabuisierung der Geschlechtlichkeit sowohl Buben als auch Mädchen im Stich auf ihrer Suche nach der eigenen, bewussten Identität. Gerade Identität entwickelt sich in Abgrenzungen: ich und die andern. Eine ganz zentrale und tiefe Abgrenzung ist die Geschlechtsidentität.

Ich muss die meinige nicht feindlich verteidigen und die andere mit Hohn oder Wut überziehen, wenn ich meiner eigenen und ihres Wertes sicher bin. Nur Verunsicherte oder (Ver-)Zweifelnde müssen gegen andere zu Felde ziehen. Eine andere Verteidigungsstrategie ist es, jeglichen Vergleich zu verhindern, indem keine Unterschiede anerkannt werden. Und dann darf um Himmels Willen niemand einen Unterschied sehen; denn sonst bricht der innere Konflikt so gefährlich auf, dass ich meinen Schutzschild gegen diese Erkenntnis mit Vehemenz verteidigen muss. An dem Punkt treffen sich übrigens Hass gegen das andere Geschlecht und Rassenhass, und natürlich auch Religionshass. Schliesslich kann ich über alles einen Mantel des Schweigens ziehen: Wir sprechen dann – dem Vogel Unrecht tuend – von Vogel-Strauss-Politik.

«Erzieherisch müssen wir drei Ebenen auseinanderhalten: Beide Geschlechter wissen und fühlen in der weit überschiessenden Zahl, dass sie Buben oder Mädchen sind (die Tatsachenebene). Eine andere Frage ist, ob sie damit zufrieden sind oder nicht (die Wertungsebene). Die Klärung, was die Tatsache für das Leben bedeutet, gehört in die Interpretationsebene. Nur diese letzte Ebene gehört in den Genderdiskurs.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Veränderungen der Bedeutung des jeweiligen Geschlechts werden durch die gesellschaftliche Entwicklung bestimmt. Die Genderdiskussion ist zweifellos ein sehr fruchtbarer Treiber gesellschaftlicher Veränderungen und Entwicklungen.

Abgrenzung der Geschlechter anerkennen

Die individuelle Entwicklung geschieht zunächst wesentlich auf der Wertungsebene: Kinder suchen nach Vorbildern, die ihrem Wesen entsprechen. Sie bewundern sie, wenn sie ihr Geschlecht gernhaben oder hassen sie, wenn sie darüber enttäuscht sind. Offen oder insgeheim werfen viele Kinder in bestimmten Lebensabschnitten den Eltern – mehrheitlich der Mutter – vor, dass sie sie so geboren hat, wie sie sind. In diesen Phasen sollte man nicht Transgenderfantasien nähren und am physischen Leib rumschnippeln (um gar keine oder eine noch bessere Frau zu werden), sondern sich erzieherisch mit dem Geschlecht und dem Geschlechtlichen auf allen drei Ebenen befassen.

Enttäuschungen sind ernst zu nehmen und Gespräche darüber intensiv und einfühlsam zu führen. Chancen und Freude am eigenen Geschlecht, in das man geboren ist, sollen aufgezeigt werden. Dazu kann auch gehören, dass der Einsatz gefördert wird, sich auf der Interpretationsebene einzusetzen und beispielsweise gesellschaftliche Genderdeutungen zu verändern.

Die Abgrenzung der Geschlechter zueinander ist eine biologische Tatsache, mit der sich zu arrangieren erster erzieherischer Einsatz ist. Was wir (individuell) daraus machen, ist eine zweite zentrale Aufgabe; und drittens gehört die gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber hinzu, was das jeweilige Geschlecht in dieser Gesellschaft bedeuten soll.

«Die Auflösung der Geschlechtergrenze ist in der Fantasie, in der Kunst und in der Mode möglich. Werden diese Ebenen aber als physische Realität missverstanden, stürzen Kinder, Jugendliche und in ihrem Persönlichkeitsbild ungefestigte Menschen in schwere Konflikte, die auch Krankheiten oder Suizide zur Folge haben.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Zwar will ich davor warnen, Menschen mit uneindeutigen Geschlechtsidentitäten abzuwerten oder auszugrenzen; ihr Schicksal soll aber Mädchen und Buben nicht darin behindern, Freude und Glück an ihrem Geschlecht zu finden und dazu zu stehen. Es ist die Aufgabe der Erziehung und der Gesellschaft, sie darin zu unterstützen.

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