Den ganzen Tag, jeden Tag – immer: Ist es möglich und sinnvoll, stets ehrlich zu sein? Wer in jeder Situation offen ist, sei nicht ganz dicht, sagen die einen: Mit absoluter Ehrlichkeit manövriere man sich ins Abseits. Andere sind überzeugt, dass wir nur mit dieser Haltung glücklich werden.

Ich war konsterniert, ich war enttäuscht, ich war verunsichert: Einen Zacken zulegen müsse ich, wolle ich das werden, was mir vorschwebte: rasender Reporter, Radiomoderator.
Das offenbarte mir meine Französischlehrerin kurz vor der Matur. Sie fand, für den Beruf des Journalisten sei ich zu zurückhaltend: Ich müsse mehr aus mir herauskommen, mehr von mir zeigen, mehr wagen; souverän auftreten und freche Fragen stellen. Ich schluckte und brauchte Zeit, um diese Einschätzung zu verdauen und zu sortieren. Ich hatte mir Bestätigung erhofft. Dass meine Lehrerin sagen würde: Du schreibst süffig, du bist sprachlich begabt, alle Türen stehen dir offen.

Nicht der bequeme Weg

Ich spürte, dass ihre Einschätzung nicht aus Böswilligkeit oder aus einer schlechten Laune heraus erfolgte. Ich hatte den Eindruck: Sie sagt offen, was sie denkt.
Klar, sie war meine Lehrerin und hatte einen pädagogischen Auftrag – den sie jedoch auch anders hätte umsetzen können: Sie hätte etwas Ermunterndes sagen können. Sie wählte nicht den bequemen Weg. Wer sagt schon gerne jemandem etwas, von dem er weiss, dass der andere das nicht gerne hört?

Denn die Verlockung, die Wahrheit mit Weichspüler zu verdünnen, damit sie angenehm duftet und dem anderen weniger stinkt, ist gross. Die meisten Menschen wollen zu anderen nett und höflich sein. Wollen vermeiden, sich einer muffigen Reaktion auszusetzen, wollen die Beziehung nicht aufs Spiel setzen. Und sagen dann etwas Nettes – nicht ungeschminkt das, was sie wirklich denken

«So lassen wir uns manchmal dazu hinreissen, ein Kompliment zu machen, das nicht unserem wahren Eindruck entspricht, um dem anderen ein gutes Gefühl zu geben.»
Marcel Friedli

Schwindeln und flunkern

So flunkern wir, lassen aus oder weg, winden uns. Greifen zu einer Notlüge. Wir lügen manchmal faustdick. Bis zu zwanzig Mal. Rechnet man Ironie, Unter- und Übertreibungen, Sarkasmus, Zynismus dazu, schummeln und lügen wir bis zu zweihundert Mal – an einem einzigen Tag.

Wir lügen, um andere nicht zu verletzen. Und auch aus einer tiefen Angst heraus: der Angst, abgelehnt zu werden. Der Angst, dass uns die Liebe entzogen, gekündigt wird. Wir fürchten, verlassen, alleine gelassen zu werden – die Angst, die tief in uns hockt.
So lassen wir uns manchmal dazu hinreissen, ein Kompliment zu machen, das nicht unserem wahren Eindruck entspricht, um dem anderen ein gutes Gefühl zu geben. Oder wir sind bequem, wollen unsere Ruhe, keinen Zoff. Oft wollen wir gut dastehen, lügen unsere Schwächen, unsere Defizite, unsere Versäumnisse und unser Versagen weg. Oder klammern negative Ereignisse oder Schattenseiten aus, um uns vor uns selber und anderen prima zu fühlen.

Vermeintliche Nächstenliebe

Die Wahrheit zurechtzubiegen, dient als sozialer Kitt und ist ein Zeichen vermeintlicher Nächstenliebe. Darum ist unser Umgang oft von heuchlerischer Unehrlichkeit, oberflächlicher Nettigkeit geprägt – obwohl wir uns Ehrlichkeit wünschen: Die meisten schätzen es, wenn sie wissen, dass der andere das, was er sagt, so meint.

Höflich lügen

Unverstellt und echt

Wir haben von klein auf gelernt, dass wir nicht lügen dürfen, nicht lügen sollen: Ehrlichkeit ist eine soziale Norm, ein sozialer Anspruch. Wenn wir lügen, haben wir meist ein schlechtes Gewissen. Dieses schieben wir zur Seite. Allerdings kostet es Kraft, das Unterbewusste zu täuschen. Häufig reagieren wir körperlich und psychisch, wenn wir ein Doppelleben führen: mit Depressionen oder Schmerzen.
Instinktiv wissen wir um den Wert von Ehrlichkeit. Je näher die Beziehung, desto mehr ist Echtheit das Fundament, auf dem wir Vertrauen zum anderen aufbauen.

Eine grosse Herausforderung bedeutet dies doch, sich unverstellt zu zeigen: mit allen Defiziten, Schwächen, Stimmungen, Vorlieben, Ansichten. Es bedeutet auch, uns selber auf der Spur zu sein und zu sagen, wann und warum wir verletzt sind, schlechte Laune haben, eifersüchtig sind.
Auf so viel Transparenz haben wir nicht immer Lust oder mögen uns die Zeit dafür nehmen; wir vermeiden es, dem anderen wehzutun – und greifen zur Notlüge. Dafür haben die meisten ein gewisses Verständnis; vor allem, wenn sie diese zum eigenen Vorteil einsetzen.
Beim Partner bleibt jedoch meist ein schales Gefühl zurück: Er spürt, dass es eine Ausrede ist, der wahre Grund verschwiegen wird. Widersprechen sich eigene Wahrnehmung und Worte des anderen, untergräbt dies das Vertrauen – das Fundament der Beziehung.

Radikal und ehrlich

Diesen Satz würde Brad Blanton unterschreiben. Vor allem würde der US-amerikanische Psychotherapeut, der das Buch «Radikal ehrlich» verfasst hat, hinzufügen: Wir machen uns selber und unsere Mitmenschen glücklich, wenn wir immer ehrlich sind und unsere Worte unserem Verhalten entsprechen.
Sind wir nicht aufrichtig zueinander, führt dies zu Konflikten, die uns krank machen.

Stets ohne Filter zwischen Gehirn und Mund, immer allen sagen, was man denkt? Dass dies der richtige Weg ist, bezweifelt Jana Nikitin von der Fakultät für Psychologie der Universität Basel. Ein Mann solle seiner Frau beispielsweise nicht gestehen, dass er auf ihre Schwester steht. «Was soll die Frau mit dieser Information anfangen?», sagt sie. «Es würde sie unglücklich machen und verunsichern.» Es sei normal, dass Menschen sich vergucken; das verflüchtige sich meist wieder. «Deswegen sollte die Beziehung nicht in Gefahr gebracht werden. Einander alles zu erzählen, ist eine Zumutung.»

Auch bei einem Vorstellungsgespräch ist es hinderlich, alle Karten auf den Tisch zu legen: Die Chancen, den Job zu erhalten, steigen, wenn der Bewerber glaubwürdig auf Stärken und Erfolge hinweist und Zweifel oder Missglücktes weglässt.

Höflich lügen

Trägt der Mensch sein Herz immer auf der Zunge, wird er isoliert, landet im Abseits. Obwohl sich Tuulia Syvänen dessen bewusst ist, setzt sie auf radikale Ehrlichkeit. Nicht nur privat, sondern auch beruflich: Darum hat sie ihrem Chef oft widersprochen – obwohl sie Angst hatte, dass sie sich damit das Leben unnötig schwer mache. «Ich war angenehm überrascht, dass mein Einsatz einen gegenteiligen Effekt hatte», erzählte sie dem deutschen Magazin «Neue Narrative.» «Für meinen Chef war ich die Einzige, der er vertrauen konnte.» Er war sich gewiss, dass Syvänen Probleme nicht unter den Teppich kehrte, um ihm zu gefallen.
Nicht nur im Beruf, auch in der Familie, bei Freunden und Bekannten kann der Ehrliche belohnt werden, wenn er es wagt, seine Ansichten zu offenbaren: Er wird mit Vertrauen beschenkt – und andere lassen eher hinter ihre Fassade blicken.

Rücksichtsvoll und diplomatisch

Viele schätzen es, wenn jemand seine Meinung sagt. Reagieren einige dabei allerdings ihre Aggressionen ab und wollen bewusst verletzen, ist dies nicht fair. Ratsam ist vielmehr, dies diplomatisch zu tun, mit einer Schwestertugend: der Rücksicht. Dem anderen so viel und auf eine Art sagen, die für ihn zumutbar ist. Nicht zu allem müssen wir ungefragt unseren Senf dazugeben. Doch legt jemand Wert auf unsere Meinung, sind wir es ihm schuldig, ehrlich zu sei. So erhält der andere eine wertvolle Ergänzung seines Selbstbildes und kann sich weiterentwickeln.

Im Nachhinein bin ich froh, dass meine Lehrerin damals ehrlich zu mir war. Sie machte mir bewusst, dass ich an meinem Selbstvertrauen und Auftreten arbeiten muss. Darum streckte ich die Hand öfter auf, überwand meine Schüchternheit – und wagte den Schritt, eine Jugendsendung im Radio zu initiieren. So konnte ich überprüfen, ob sich die Vorstellungen über meinen Traumberuf mit der Realität deckten.
Dank der Ehrlichkeit meiner Lehrerin erfuhr ich: Ja, der Beruf des Journalisten ist tatsächlich so bereichernd, faszinierend, vielfältig und kreativ, wie ich vermutete. Ich habe die nötigen Voraussetzungen.