Krisen sind ähnlich wie Gewitter. Sie kommen manchmal ganz plötzlich und sind unangenehm. Aber sie wirken auch reinigend.

Krisenstimmung

Schon seit einiger Zeit fühlt sich Sandra unsicher und nicht mehr richtig wohl. Seit zwei Jahren ist sie geschieden, ihre beiden Töchter stehen mitten in der Pubertät, die neue Beziehung erscheint ihr unbefriedigend und auch die Arbeit gefällt ihr nicht mehr. Gerne möchte sie mit ihrem Partner zusammenziehen, doch Sandra ist der Meinung, dass dies für ihre Kinder nicht optimal wäre. Auch in der Freizeit quält sie sich mehr schlecht als recht über die Runden. Für sportliche Betätigungen kann sie sich nicht wirklich aufraffen, fühlt sich oft müde, zum Lesen hat Sandra keine Lust. Gleichzeitig ärgert es sie, dass sie stundenlang vor dem Fernseher hängt und sich Sendungen anschaut, die sie eigentlich gar nicht interessieren. Kurz und gut: Sandra steckt in einer veritablen Krise und ist offenbar an einem Punkt angelangt, an dem grundsätzliche Veränderungen unumgänglich scheinen.

Ebenso unklar ist die Situation bei Beat. 49 Jahre alt ist er, seit knapp zehn Jahren arbeitet er als Lehrer an einer höheren Schule. Die Arbeit empfindet er als langweilig. Seine Partnerin möchte ihn schon seit Langem heiraten und Kinder mit ihm. Er selbst weiss nicht so recht, was er dazu sagen soll. Auch die Wohnsituation ist unbefriedigend. Ein Haus bauen oder nicht? Warum denn ein Haus bauen, wenn wir vielleicht doch keine Kinder haben werden? Mit diesen ermüdenden Fragen kämpft sich Beat durch den Alltag. Das geht so weit, dass er sogar seine Freizeit und Ferien nicht mehr richtig geniessen kann.

Krisen: unangenehm, aber reinigend …

Midlife-Crisis?

Unter Midlife-Crisis versteht man eine Krise, die in der Lebensmitte zwischen 35 und 50 Jahren auftritt. Der Begriff Midlife-Crisis (Lebensmitte-Krise) ist jedoch ein umstrittener und wissenschaftlich-psychologisch nicht offiziell anerkannter Begriff.

Doch das ändert nichts daran, dass viele Menschen in diesem Alter mehr oder weniger plötzlich in eine Krise schlittern, die irgendwie bewältigt werden will. Diese Krise äussert sich in den Gedanken, den Gefühlen und auch im Verhalten. Typische Gedanken sind: War das schon alles, was das Leben zu bieten hat? Mit mir geht es nur noch bergab, meine beste Zeit ist vorüber. Wer bin ich eigentlich und wozu bin ich hier? Ich möchte frei sein, mehr erleben, ich brauche Abwechslung und Abenteuer. Wie schön wäre es doch, wenn …

«Diese Gedanken sind begleitet von Gefühlen der Unzufriedenheit, der Sinnlosigkeit, der Lustlosigkeit, Gereiztheit, dazu vielleicht auch der Angst vor der Zukunft, Wut oder auch Trauer.»
Albin Rohrer

Es überrascht nicht, dass diesen Gedanken und Gefühlen schon bald auch Taten folgen: Rebellion gegen Einengung zum Beispiel, Kündigung der Arbeitsstelle, Trennung von der Partnerin oder vom Partner, Rückzug, die Suche nach Abenteuern. Man sucht sich neue Partner, kauft ein neues Auto, neue Kleider oder sucht sich neue Hobbys.

Geschlechtsspezifische Krisenbewältigung

Krisen treffen Männer wie Frauen, allerdings reagieren nicht beide Geschlechter gleich. Auch körperlich passiert bei Männern nicht dasselbe wie bei Frauen. Ein einschneidendes Ereignis bei Frauen ist bekanntlich das Ausbleiben der Menstruation. Ein solch deutliches Zeichen gibt es bei Männern nicht, wenngleich auch bei ihnen nicht mehr ganz alles so ist, wie es früher war. So lässt beim Mann beispielsweise die Produktion von Testosteron ab dem 40. Lebensjahr pro Jahr um etwa ein Prozent nach. Zudem bemerkt er eine allmähliche Gewichtszunahme, Faltenbildung oder auch eine spürbare Abnahme der Leistungsfähigkeit.

Die Jahre um die 40 sind für Frauen insofern «gefährliche» Jahre, weil 70 Prozent aller Suizide von lebensüberdrüssigen Frauen in dieser Lebensphase passieren. Dazu ist in diesem Alter bei Frauen auch die Abhängigkeit von Medikamenten deutlich höher. Viele Männer zeigen in dieser Phase vor allem eine Lustlosigkeit im Beruf. Es wächst die Angst vor den nachrückenden jüngeren Berufskollegen.

Nicht wenige Männer neigen dann dazu, ihre durch die Krise ausgelöste Frustration auf die Aussenwelt zu projizieren. «Schuld» an der Misere tragen meist der Chef, der Betrieb, die Ehefrau, die Schwiegermutter oder die Kinder. Frauen, selbst wenn sie massiv von einer Krise geschüttelt werden, gehen im Allgemeinen bewusster damit um und begreifen eine Krise eher als Chance zur Veränderung.

Kampf oder Flucht

Jede Krise ist auch eine Chance. Diese Weisheit klingt zwar längst überholt und abgedroschen, hat aber noch immer ihre Gültigkeit.

«Wenn wir in einer Krise stecken, so stehen uns grundsätzlich zwei Möglichkeiten offen: Entweder befassen wir uns damit und unternehmen etwas dagegen – oder wir verdrängen die Krise und laufen vor ihr davon.»
Albin Rohrer

Wer sich für das Weglaufen entscheidet, der sollte sich dann allerdings nicht wundern, wenn ihn die Krise plötzlich einholt und heftig am Ärmel packt. «Wie der kindhafte Mensch vor der Unbekanntheit der Welt und des Lebens zurückschreckt, so weicht auch der Erwachsene vor der zweiten Lebenshälfte zurück.» Das sagte der Tiefenpsychologe C.G. Jung und brachte das Problem auf den Punkt. Neben körperlichen Anzeichen und Veränderungen zeigt sich die Krise nämlich auch seelisch. «Das eigentliche Problem, vor dem der Mensch in der Lebensmitte steht, ist seine Haltung gegenüber dem Tod», meint dazu der deutsche Mystiker und Autor Anselm Grün. Dass unsere Haltung gegenüber dem Tod auch unsere Haltung gegenüber dem Leben massiv beeinflusst, liegt auf der Hand. Die Frage nach dem Tod mündet nämlich in der Frage nach dem Sinn des Lebens. Wozu leben wir? Was wollen wir? Was sollen wir?

Sich dem Kern zuwenden

Der amerikanische Psychologe James Fowler war der Ansicht, dass das, was wir als Burn-out benennen, nichts anderes ist als ein Protest der Seele, deren Sehnsüchte nach Berufung zu lange vernachlässigt, unterdrückt oder verletzt wurden: «Die wahre Leere kommt von der Entdeckung, dass die Strategie, uns nur in uns selbst zu gründen, eine unangemessene Basis für unser Leben ist.» Damit meinte er, dass es nichts bringe, wenn wir in der Lebensmitte mit aller Kraft versuchen, so zu bleiben, wie wir früher waren. Vielmehr gehe es darum, in der Mitte des Lebens zum eigenen Kern zu gelangen, die eigene Berufung zu finden, die eigenen Möglichkeiten zu erkennen und ebenso die eigenen Grenzen zu akzeptieren. «Die zweite Lebenshälfte», sagte Fowler, «soll, der Kultivierung des Lebens dienen.» Daran ist die Aufgabe gekoppelt, sich mehr von der Aussenwelt ab- und der eigenen Innenwelt zuzuwenden.

Was ist zu tun?

Eine Krise birgt immer die Gefahr in sich, Hals über Kopf radikale Veränderungen vorzunehmen, die letztlich mehr Schaden anrichten, als dass sie etwas nutzen. Eine Krise beinhaltet aber auch die Chance zu erkennen, was einem im Leben wirklich wichtig ist. So kann einerseits Bilanz gezogen werden, andererseits können auch neue Prioritäten und Ziele gesetzt werden.

Krisen: unangenehm, aber reinigend …

Nicht selten geht es auch darum, sein Leben wieder in eine gesunde Balance zu bringen. «Work-Life-Balance» ist hier das passende Schlagwort. Was heisst das? Das heisst, dass wir uns darüber klar werden sollten, dass das Leben nicht nur aus Arbeit, Karriere, Geld oder der Bemutterung von bereits erwachsenen Kindern besteht. Wer das Leben in einer gesunden Balance halten möchte, berücksichtigt Faktoren wie: Arbeit, Gesundheit, Ernährung, Bewegung, Beziehungen, Familie, soziale Kontakte und auch den Lebenssinn.

«Zwei Dinge sind letztlich entscheidend, ob eine Krise tatsächlich auch als Chance genutzt werden kann: Zuerst braucht es Geduld, die Krisenzeit auszuhalten – und danach braucht es Mut, die notwendigen Veränderungen einzuleiten.»
Albin Rohrer

Übrigens: Krisen treffen nicht nur Menschen in der Lebensmitte, auch viel jüngere oder ältere Menschen können unerwartet in grössere Krisen rutschen …