Seidenspinne Trichonephila edulis. © Kai Fehler, MHH

An der Klinik für Plastische, Ästhetische, Hand- und Wiederherstellungs­chirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) werden tropische Seidenspinnen gezüchtet – und «gemolken». Warum? Der goldschimmernde Faden, den sie in ihrem Hinterleib produzieren, wird zur Rekonstruktion von geschädigten menschlichen Nervenbahnen genutzt.

Spinnenfäden – Hoffnung für die Nervenregeneration

Spinnenfäden sind ein Wunderwerk der Natur: enorm dünn, leicht und dehnbar, gleichzeitig aber auch extrem stark und reissfest. Vergleicht man die Fäden mit Stahl, sind sie bei gleichem Durchmesser etwa fünfmal stabiler. Doch damit nicht genug. Das Biomaterial verblüfft zudem mit Eigenschaften, die für die regenerative Medizin von grossem Nutzen sind. Im Spider Silk Laboratory der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) wird diesbezüglich intensiv geforscht.
Wir sprachen mit Peter M. Vogt, Klinikdirektor der MHH, über den wundersamen Faden der Seidenspinne Trichonephila edulis und dessen Potenzial in der Chirurgie.

Herr Dr. Vogt, welche Eigenschaften hat Spinnenseide, die für den chirurgischen Einsatz so kostbar sind?

Neben der Stabilität und Dehnfähigkeit ist es die gute Biokompatibilität, also die gute Verträglichkeit im menschlichen Körper. Ausserdem haben die Spinnenfäden die Besonderheit, dass menschliche Zellen darauf wachsen und sich dort gut vermehren können. Darüber hinaus weist die Spinnenseide eine hohe Resistenz gegenüber Infektionen und Bakterien auf. Und die Seide ist autoklavierbar, das heisst: sie kann mit heissem Wasserdampf (134 °C) sterilisiert werden, ohne dabei Schaden zu nehmen.

Spinnenseide wurde schon in der Antike und im Mittelalter als Auflage zur Wundheilung genutzt. Dieses Wissen ging jedoch verloren. Seit einigen Jahren wird nun Spinnenseide in der modernen Medizin verwendet. Diesbezüglich sind Sie Pioniere an der MHH, richtig?

Ja, wir waren vor 20 Jahren in Hannover die Ersten, die sich mit Spinnenseide und deren klinischem Einsatz befasst haben. Und wir erforschen das Biomaterial immer weiter. Wir haben mittlerweile die ersten Patient*innen mit Langzeitergebnissen von zehn Jahren. Das heisst, wir können wirklich überblicken, wie sich Spinnenseide im Körper verhält.

Wie kamen Sie auf die Idee, Spinnenseide zu nutzen?

Wir haben nach einem geeigneten Material gesucht, um defekte Nervenbahnen rekonstruieren zu können. Denn, wenn ein Nerv durchtrennt und die Enden abgestorben sind, braucht es zwischengeschaltete Leitstrukturen, an denen der Nerv wieder zusammenwachsen kann. Ist der defekte Teil einer Nervenbahn maximal drei Zentimeter lang, können wir zur Überbrückung beispielsweise sogenannte Neurotubes (Nervenröhrchen) einsetzen. Es ist auch möglich, einen autologen Spendernerv (patienteneigener Nerv, der an einer anderen Stelle entnommen wird, zum Beispiel der Nervus suralis aus dem Unterschenkel) einzufügen.

Müssen mehr als drei Zentimeter überbrückt werden, funktioniert das damit allerdings nicht mehr. Deshalb haben wir andere Materialien getestet. Doch sie waren alle nicht für die sogenannten Schwann-Zellen geeignet. Diese hochempfindlichen Zellen bilden die Hülle der Nerven im peripheren Nervensystem und ermöglichen erst die elektrische Leitung von Impulsen. Christina Liebsch, unsere medizinisch-technische Laboratoriumsassistentin (MTLA), kam auf die Idee, Spinnenseide näher zu untersuchen. Sie wusste, dass das Biomaterial früher zur Wundheilung genutzt wurde.

Wann setzen Sie Spinnenseide in der Chirurgie ein?

Derzeit nutzen wir sie, um Nervenbahnen zu rekonstruieren, zum Beispiel auch nach einer Prostataentfernung, um Impotenz zu verhindern. Wir haben mittlerweile aber auch Versuche laufen, das Material zu verweben, um künstliche Gefässe herzustellen. Bislang besteht ein Gefässersatz aus Spenderarterien und -venen oder aus Kunststoffmembranen, die zu einem Rohr zusammengenäht werden. Solche künstlichen Gefässe bringen aber immer ein gewisses Infektions- und Thromboserisiko mit sich. Ausserdem sind diese starr. Mit einem biologischen Material wie Spinnenseide ist das nicht so, das heisst: Die Gefässe können sich engen oder weiten. Bei der Entwicklung von Gefässprothesen ist das ein grosser Fortschritt.

Wenn Spinnenfäden heilen helfen
Spider Silk Laboratory, MHH. © Kai Fehler, MHH

Was erhoffen Sie sich künftig noch von der Spinnenseide? Wäre es beispielsweise denkbar, damit Querschnittslähmungen heilen zu können?

Mit diesem Thema haben wir uns bereits beschäftigt. Allerdings gibt es hier gewisse Probleme mit Fremdkörperreaktionen im Rückenmark. Im zentralen Nervensystem sind die Bedingungen natürlich anders als im Peripheren Nervensystem. Aber ich denke, das Problem lässt sich irgendwann lösen.

Es ist also durchaus denkbar, dass querschnittsgelähmte Menschen eines Tages wieder laufen können?

Das wäre zumindest unsere Hoffnung.

«Ziel ist es, mithilfe von Spinnenseide auch komplexe Lähmungen zu beherrschen. Vielleicht kann man irgendwann sogar Defekte im Hirn überbrücken. Aber das ist zum jetzigen Zeitpunkt reine Spekulation. Dazu gibt es keine Versuche.»
Univ.-Prof. Dr. med. Peter M. Vogt

Wie wird die Spinnenseide gewonnen?

Wir entnehmen der Spinne ihren sogenannten Schleppseilfaden. Spinnen produzieren in Fäden, die jeweils unterschiedliche Oberflächeneigenschaften haben und in der Dicke variieren. Der Schleppseilfaden (nicht klebrig) dient der Spinne zur Sicherung, wenn sie sich irgendwo abseilt oder herunterfällt. Es ist der einzige Faden, dessen Produktion wir künstlich «provozieren» können. Hierbei wird die Spinne vorsichtig in einer bestimmten Position fixiert und der Faden in konstanter Geschwindigkeit auf eine Spule abgewickelt. Bei einem Melkvorgang können bis zu 70 Meter des Materials gewonnen werden. Das Ganze dauert jeweils etwa 15 Minuten lang. So lange hält eine Spinne in der Regel still und ist nicht gestresst. Danach bekommt sie zu fressen und wird wieder zurück ins Spider Silk Laboratory gesetzt, wo sie ihr Netz frei in den Raum spannen darf.

Die molekulare Struktur von Spinnenseide kann mittlerweile auch künstlich hergestellt werden. Wofür wird diese künstliche Seide eingesetzt?

Daraus werden unter anderem kugelsichere Westen produziert, die im Vergleich zu normalen Schusswesten zwar ebenso stabil, aber gleichzeitig extrem leicht sind. Künstliche Kosmetika, die Beschichtungen von Implantaten oder zur Herstellung von Schuhen genutzt.