Es gibt Menschen, die sind ziemlich hochnäsig, arrogant und eingebildet. Es gibt aber auch Menschen, die sich mit der Selbstachtung schwertun. Beides ist nicht ideal.

Minderwertigkeitsgefühle

Nehmen wir einmal an, Sie hätten ständig etwas an sich auszusetzen – an Ihrem Aussehen, Ihrem Charakter, Ihren Fähigkeiten, Ihrem Verhalten. Sie finden permanent eigene Fehler. Sie sind sich stets Ihrer zahlreichen Schwächen bewusst. Über Misserfolge führen Sie sogar Buch. Sie wissen um Ihre Unvollkommenheit und verurteilen sich dafür. Sollte Ihnen doch einmal etwas gelingen, bezeichnen Sie dies als «Zufall» oder «Glück». Ganz sicher hat das aber nichts zu tun mit Ihren Fähigkeiten. Minderwertigkeitsgefühle, Schuldgefühle – aber auch Neid, Geiz und Eifersucht – sind Ihre treuen Begleiter. Sie haben diese Gefühle stets an der Hand oder spüren Sie deutlich im Nacken. Klar ist, dass alle anderen besser, attraktiver und erfolgreicher sind als Sie. Sie riskieren nichts, weil Sie ja sowieso immer die falschen Entscheidungen treffen.

Ausserdem haben Sie das Gefühl, dass niemand Sie leiden mag. Sie werden von allen Seiten bedroht: Man will Ihnen nur Schlechtes. Sie machen sich täglich – ja fast stündlich – Sorgen, was andere wohl über Sie denken. Und wenn Sie in den Spiegel schauen, erkennen Sie eine unsympathische, nahezu grässliche Person, deren Existenz eigentlich gar keine Berechtigung hätte. Sie glauben auch nicht, dass sich das irgendwann ändern wird. Im Gegenteil – es wird von Tag zu Tag schlimmer: Sie werden nur noch älter, faltiger, dicker, grauer und dümmer.

Das ganze Leben sind Sie zu kurz gekommen – schon von Kindheit an. Andere hatten die besseren Voraussetzungen, die verständnisvolleren Eltern oder die einfühlsameren Lehrpersonen. Sie haben auf vieles verzichten müssen, hatten es immer schwer. Niemand hat Sie unterstützt. Nun machen Sie sich über alles und jeden grosse Sorgen. Der Begriff «Vertrauen» existiert für Sie nicht – das ist bloss ein leeres Wort. Sie trauen sich nichts zu und sind in allen Belangen mittelmässig. Mehr noch, Sie werden stets ausgenützt: von den Nachbarn, dem Chef, den Eltern, den Kindern. Sie sind sich selbst der ärgste Feind. Kurz und gut: Ihr Leben ist eine Katastrophe, Ihre Situation miserabel. Und natürlich sind Sie selbst schuld an dieser Misere!

«Ich bin doch gar  nichts  …»

Selbstachtung und Selbstwert

Das geschilderte Szenario ist übertrieben. Doch in abgeschwächter Form trifft es sicher auf den einen oder anderen zu. Es führt uns zum Thema «Selbstachtung»: Selbstachtung oder auch Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein oder Selbstvertrauen sind Begriffe, die nur schwer voneinander zu trennen sind. Denn sie bezeichnen im weitesten Sinne dasselbe: In der Psychologie versteht man darunter den Eindruck oder die Bewertung der eigenen Person. Das kann sich auf Charakter, Aussehen oder Fähigkeiten beziehen. Und es ist bekannt: Jede Bewertung ist subjektiv. Das bedeutet: Wenn ich mich selbst als miserabel einschätze, heisst das noch lange nicht, dass ich miserabel bin. Es heisst nur, dass ich meine, miserabel zu sein.

«Wenn meine Eltern…»

Die Grundlagen für ein gutes Selbstwertgefühl und die entsprechende Selbstachtung werden in der Kindheit gelegt. Erhält ein Kind die dringend benötigte Aufmerksamkeit, Zuwendung und Anerkennung durch die Eltern (später auch durch Geschwister, Bekannte und das gesamte soziale Umfeld), kann es ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln. Das Kind lernt dann nach und nach, sich selbst richtig einzuschätzen. Dabei erkennt es zwar auch seine Fehler und Schwächen, aber unbedingt auch seine Begabungen und Fähigkeiten. Talente und Fähigkeiten haben übrigens alle Menschen!

Leider erhalten nicht alle Kinder die notwendige Zuwendung und Anerkennung ihrer Eltern. Wer diesbezüglich etwas zu kurz gekommen sein mag, ist aber noch längst nicht verloren. Man kann sich das Selbstwertgefühl im Jugend- und Erwachsenenalter auch selbst aneignen. Das ist zwar nicht einfach, aber möglich. Wie oft hört man doch Menschen klagen: «Hätten meine Eltern das gemacht, so wäre ich jetzt …» oder «Hätten meine Lehrer mich mehr gefördert, könnte ich jetzt …» Das mag stimmen. Doch diese Klagen helfen nicht weiter. Denn der Unterschied zwischen einem Kind und einem erwachsenen Menschen ist einfach erklärbar:

«Der Erwachsene kennt seine Bedürfnisse und vermag sie zu befriedigen, weil ihm bewusst ist, dass niemand ausser ihm selbst für sein Leben verantwortlich ist. Das Bewusstsein für diese Eigenverantwortung ist vielleicht die Grundlage für die Selbstachtung und damit auch für das Selbstwertgefühl.»
Albin Rohrer

Vertrauen ins Leben

Selbstachtung und Selbstbewusstsein sind bei einem Menschen an verschiedenen Indikatoren abzulesen: Mimik, Gestik und Körperhaltung sind lebendig, offen und verständlich. Ebenso ist die Stimme deutlich und klar. Lebhafte, aufgeweckte und strahlende Augen sind ein weiteres äusseres Zeichen. Die Selbstachtung zeigt sich auch an den Komplimenten, die man gerne macht und entgegenzunehmen vermag. Selbstbewusste Menschen können Kritik entgegennehmen und zu den eigenen Fehlern stehen (Fehler sind im Übrigen etwas völlig Normales). Wer sich selbst achtet, ist offen gegenüber Neuem und kann mit Unsicherheiten, Zweifeln und Ängsten (auch diese sind ganz normal) einigermassen umgehen.

Selbstachtung heisst auch, zu sich stehen zu können, ohne andere zu überfahren, auf Stresssituationen angemessen zu reagieren, sich zu entspannen – und vor allem auch loslassen zu können.

«Wer über genügend Selbstachtung und Selbstbewusstsein verfügt, vertraut nicht nur sich selbst, sondern dem Leben grundsätzlich und verfügt über die Fähigkeit, mit Verletzungen umzugehen.»
Albin Rohrer

Das ist zentral – denn niemand kommt durchs Leben, ohne gelegentlich zu verletzen oder verletzt zu werden. Das gehört zwingend zum Leben.

Einfach sein

Vielleicht ist es letztlich eine philosophische Frage: Betrachten wir uns als einen Teil des gesamten Universums als «Ich bin ein Teil des Ganzen»? Oder betrachten wir uns als Einzelteil unter dem Motto «Ich gegen den Rest der Welt»? Wer zu Letzterem neigt, wird es wohl bezüglich Selbstachtung etwas schwer haben. Solche Menschen leiden entweder unter einem «falschen» Selbstwertgefühl (Selbstüberschätzung, gekünsteltes Verhalten, Macho-Gehabe, Angeberei und Gebrauch von Statussymbolen wie Auto, Geld oder Kleidung) oder unter einem verminderten Selbstwertgefühl (Selbstunterschätzung, Selbstabwertung).

«Wer sich als Teil des Ganzen sehen kann (ähnlich, wie jedes Blatt eines Baumes zum Stamm und entsprechend zum Ganzen gehört), kann sich selbst besser akzeptieren und aufhören, ständig zu vergleichen.»
Albin Rohrer

Menschen, die sich als Teil des Ganzen sehen, sind nicht besser als andere. Aber auch nicht schlechter. Sie sind einfach. Und sie freuen sich darüber, dass sie sind.