Wer nicht verzeihen kann, fügt sich letztlich selbst am meisten Schaden zu.

«Das werde ich ihm nie verzeihen», sagte mir eine Bekannte, als sie die Geschichte von ihrer Trennung und Scheidung erzählte. Dabei schäumte sie vor Wut und beschimpfte ihren Ex-Ehemann auf das Gröbste. Auf die Frage, was ihr denn dieses Nicht-verzeihen-wollen nütze, hatte sie keine Antwort. Es interessierte sie auch nicht und sie beharrte auf ihrer Haltung, obschon ihre Geschichte schon länger her war. Mehrmals bekräftigte sie, dass sie unter keinen Umständen bereit sei, ihrem Ex zu verzeihen. Dass sie damit auch verhinderte, ihren inneren Frieden wieder zu finden, wollte sie nicht einsehen.

Warum verzeihen?

Ärger und ungelöste Probleme können uns bekanntlich krank machen. Wir wissen, dass wir uns immer auch körperlich schlecht fühlen, wenn in unserer Gefühlswelt etwas in Unordnung geraten ist. Zudem kennen wir alle das wunderschöne Gefühl der Erleichterung und Befreiung nach einer Versöhnung. «Ein Stein ist mir vom Herzen gefallen», pflegen wir in solchen Situationen dann zu sagen.

Die Universität in Kalifornien führte als Versuch einen Verzeihkurs mit 250 Personen durch und beobachtete dabei den Gesundheitszustand der Kursteilnehmenden. Das Ergebnis war deutlich: Verzeihen reduzierte die Stress-Symptome (zum Beispiel Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Muskelver- spannungen, Müdigkeit, Schwindel), ausserdem verbesserten sich der Blutdruck und der Puls. Verzeihen hilft sogar, Depressionen zu lindern. Noch einige Wochen nach dem Kurs fühlten sich die Probanden ruhiger, vitaler und optimistischer.

Fast alle Menschen erleben gelegentlich Kränkungen und Verletzungen. Die Frage ist dann, ob wir dies als unerledigte Geschichte lange mit uns herumtragen wollen oder ob wir bereit sind, statt zu grübeln und uns selbst zu zerfleischen, die Situation mittels Verzeihen zu lösen.

Warum tun wir es nicht?

Was hindert uns denn manchmal daran, jemandem zu verzeihen? Klar, es geschehen manchmal Dinge, die wirklich nicht angenehm sind, die uns sehr enttäuschen und entsprechend auch schmerzen können. Wenn wir dann sagen, dass wir das nicht verzeihen können oder nicht verzeihen wollen, so betrachten wir das für den Betroffenen als eine Art «Strafe»: «Ich mag dich nicht mehr», «ich respektiere dich nicht mehr», «ich akzeptiere dich nicht mehr», «ich will nichts mehr von dir wissen» – und im schlimmsten Fall wird dabei gar von Hass gesprochen.

Tatsächlich kann es für jemanden eine Strafe sein, wenn man ihn nicht mehr respektiert, wenn man ihm nicht vergeben und verzeihen will und ihn vielleicht sogar hasst. Doch die Strafe richtet sich letztlich gegen uns selbst. Wenn wir nicht verzeihen wollen, so treffen und schaden wir uns selbst um das Mehrfache, als dass wir dem Geächteten schaden. Das Bedürfnis, nach einer Missetat jemanden zu ächten ist zwar absolut menschlich und oft auch eine erste Reaktion, doch nützt es uns letztlich nichts.

«Im Gegenteil: Solange wir nicht verzeihen können, halten wir auch die Gedanken und die Gefühle an die Tat stets aufrecht.»
Albin Rohrer

«Wer an seinem Schmerz festhält, der bestraft sich letzten Endes selber», sagt der Erziehungswissenschaftler Leo F. Buscaglia und ein altes deutsches Sprichwort besagt sogar, dass «Verzeihen die beste Rache ist».

Verzeihen – nicht einfach, aber wichtig

Nicht vergessen

Ein weiterer Grund, warum wir uns mit dem Verzeihen schwertun, ist die Tatsache, dass wir glauben, etwas nicht vergessen zu können und entsprechend dann nicht verzeihen wollen. Doch beim Verzeihen geht es nicht darum, etwas zu vergessen, es geht nur darum, das Geschehene zu akzeptieren und jemandem eine unschöne Tat zu verzeihen. «Verzeihen ist keine Narrheit, nur ein Narr kann nicht verzeihen», besagt ein chinesisches Sprichwort.

«Oberflächlich betrachtet könnte man natürlich meinen, dass Verzeihen ein Zeichen von Schwäche ist. Man glaubt, durch Verzeihen das Verhalten des anderen zu rechtfertigen und ihn dadurch sogar zu stärken. Doch das Gegenteil ist der Fall: Verzeihen können ist nicht ein Zeichen der Schwäche, sondern ein Zeichen von Stärke.»
Albin Rohrer

Verzeihen erfordert nicht nur die entsprechende Bereitschaft, es erfordert auch Kraft, Energie und Zeit. Wenn – wie im eingangs erwähnten Beispiel – eine Frau von ihrem Mann belogen und betrogen wird, so kann sie logischerweise nicht nach zehn Minuten sagen, dass die Sache erledigt sei und sie jetzt verziehen habe. Das braucht dann schon einige Zeit. Die benötigte Kraft und Energie des Verzeihens allerdings lohnt sich: Über Jahre hinweg nämlich eine Sache nicht zu verzeihen, benötigt letztlich deutlich mehr Kraft und Energie.

Nicht «gutheissen»

Das Verzeihen fällt uns manchmal auch deshalb schwer, weil wir verzeihen mit gutheissen gleichsetzen. Doch wenn wir verzeihen, heisst das nicht, dass wir ein Verhalten rechtfertigen oder sogar gutheissen. Wenn wir einem anderen verzeihen, dann bedeutet das nur, dass wir unseren Frust, unseren Ärger oder unsere Enttäuschung überwinden und vor allem, dass wir unsere Forderung aufgeben, dass andere sich stets so verhalten mögen, wie wir uns das vorstellen.

«Wenn wir verzeihen, so entscheiden wir uns damit lediglich dazu, nicht länger zuzulassen, dass das Geschehene unser Leben dauerhaft negativ beeinflusst.»
Albin Rohrer

Wie das gehen könnte, zeigt die folgende Geschichte: In New York lebte ein Jude, der unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg von Deutschland in die USA auswanderte. Er verbrachte einige Jahre in einem Konzentrationslager. Harte Arbeit, Hunger, Kälte, Misshandlungen gehörten dabei zum Alltag und kurz vor Ende des Krieges wurden seine Eltern sowie zwei seiner Brüder vor seinen Augen umgebracht. Wie durch ein Wunder blieb er selbst verschont. Auf die Frage, ob er so etwas Grausames denn wirklich verzeihen könne, hatte er eine beeindruckende Antwort: «Ich glaube, dass ich zwei Möglichkeiten habe: Entweder nehme ich mir auf der Stelle das Leben oder ich verzeihe den Tätern diese Scheusslichkeit. Täte ich das nicht, so wäre der Rest meines Lebens eine reine Tortur».

Was hilft?

Je schlimmer ein Geschehnis, desto schwieriger ist es, jemandem verzeihen zu können. Doch es gibt Möglichkeiten, die helfen können, etwas zu verzeihen.

Vielleicht hilft es uns, wenn wir uns bewusst werden, dass nicht nur andere, sondern auch wir selber immer wieder Fehler machen und dass auch wir selbst gelegentlich andere verletzen oder kränken. Bewusst oder unbewusst.

Wir wissen ja auch, dass eine Verletzung nicht immer aus Böswilligkeit geschieht, manchmal ist es vielleicht nur eine Unachtsamkeit. Niemand kommt durch das Leben, ohne zu verletzen oder verletzt zu werden. Wenn uns jemand etwas angetan hat, so könnte es ja auch sein, dass diese Person aus irgendwelchen Gründen einfach nicht anders konnte.

Wir sehen immer nur an die Menschen heran, niemals aber in sie hinein und wir wissen oft nicht, was einen anderen Menschen zu einem bestimmten Verhalten bewogen hat. Die Psyche ist tief und komplex. Nicht nur unsere, auch diejenige der anderen. Beim bereits erwähnten Beispiel könnte es ja durchaus sein, dass diese Bekannte auch ihren Anteil hatte, dass ihr Ehemann sie betrog. Bei Konflikten haben ja oft beide Parteien ihren Anteil an der Situation.

Nicht verdrängen

Groll, Wut, Frust, Angst, Verwirrung, Zorn oder Traurigkeit sind nach einem schlimmen Ereignis völlig normal. Dies zu verdrängen, hilft dann nichts.

Um Gefühle überwinden zu können, müssen wir diese Gefühle zuerst wahrnehmen, benennen und – und das ist ganz wichtig – diese Gefühle akzeptieren. Einfach ist das sicher nicht und es braucht Zeit. Gelingt es uns aber, diese Gefühle zu akzeptieren, so wächst daraus allmählich die Kraft zum Verzeihen.

Der letzte Schritt, um jemandem etwas verzeihen zu können, ist die Bereitschaft, wirklich verzeihen zu wollen. Das kann dann gelingen, wenn wir uns bewusst sind, dass das Verzeihen uns selbst in keiner Weise schadet, sondern uns letztlich nur nützt.