Der Seelsorger und Therapeut Samuel Buser spürt bei der Mehrheit der Täter in Haft Sehnsucht nach Versöh- nung.

Lange waren Dieter Gurkasch und Ruedi Szabo im Gefängnis. Beide haben eine radikale Wandlung durchgemacht. Heute setzen sie sich fürs Versöhnen ein.

«Im Gefängnis», schreibt Dieter Gurkasch, der fünfundzwanzig Jahre hinter Gittern war, «habe ich meine Freiheit gefunden, weil ich mich aus den Zwängen meiner eigenen Gedanken löste.» Er sei in sich gegangen – und zu dieser Erkenntnis gelangt: «Ich möchte gemocht werden. Ich möchte frei leben. Das werde ich nicht erreichen, wenn ich aggressiv bin.»

Dieter Gurkasch hat sich gegen die dunkle Seite der Macht entschieden, wie er in seinem Buch «Leben reloaded» weiter schreibt. «Ich entscheide selbst, ob ich Gewalt ausübe oder nicht – und ich habe mich dazu entschieden, keine Gewalt auszuüben.»

Allen vergeben

Worte eines Menschen, der einen anderen Menschen getötet hat. 1985 wird Dieter Gurkasch zu einer Haftstrafe verurteilt, nach einem bewaffneten Raubüberfall und Mord. Dafür kassiert er elf Jahre. Wieder draussen, kommt er erneut auf die schiefe Bahn, wird bei einer Schiesserei verletzt.

Zwei Mal schwebt er zwischen Leben und Tod. Das ist der Beginn seiner Wandlung, die schmerzhaft ist und alles andere als pfeilgerade. Er kommt auf den Geschmack von Yoga und setzt sich mit dem Thema Versöhnung auseinander.

«Da ich allen Menschen vergebe, die mir gegenüber schuldig geworden sind, hoffe ich aus tiefstem Herzen, dass dies eine Gegenkraft erzeugt. Ich hoffe, dass jene, gegenüber denen ich schuldig geworden bin, mir verzeihen.»
Dieter Gurkasch

Seit zwölf Jahren ist Dieter Gurkasch wieder auf freiem Fuss. Heute arbeitet er als Yogalehrer und bietet Kurse und Workshops für Häftlinge und Berufskolleginnen und -kollegen an.

Das Gespräch suchen

Den Weg vom Verbrecher zum Versöhner gegangen ist auch der ehemalige Bankräuber Ruedi Szabo: Er hat sechs Jahre im Gefängnis verbracht. Danach bildete er sich zum Journalisten, Arbeitsagogen, Antiaggressivitätstrainer und ADHS-Coach aus. Für das Diakoniewerk Elim und die Stadt Basel ist er unterwegs, um Menschen am Rande der Gesellschaft Erste Hilfe zu leisten.

Sein bewegtes Leben hat Ruedi Szabo in einem Buch aufgeschrieben: «Knallhart durchgezogen». «Mit dieser Biografie», sagt er, «will ich aufzeigen, dass alle eine Chance erhalten sollen.» Zudem wolle er Opfer ermutigen, mit den Täterinnen und Tätern das Gespräch zu suchen.

Vertrauen schenken

Niemanden vorverurteilen, Vertrauen schenken – auch einem Schwerverbrecher: Mit dieser Haltung arbeitet Seelsorger und Therapeut Samuel Buser mit Menschen im Gefängnis. Alle Menschen verfügen seiner Ansicht und Erfahrung nach über das Potenzial, eine Wandlung zu vollziehen.

«VERTRAUEN IST DIE BASIS»

Vom Verbrecher zum Versöhner. Wie oft kommen Ihnen solche Heldengeschichten zu Ohren?

Samuel Buser: Jeder Mensch hat Versöhnliches und Versöhnendes in sich. Bei einer schweren psychischen Störung kann dieser Aspekt indes verdeckt oder versteckt sein. Ich höre oft, dass den Täterinnen und Tätern ihre Tat leidtut.

Aus taktischem Kalkül – damit es eine kürzere Strafe gibt?

Der Aspekt der Reue spielt beim Strafprozess eine Rolle. Dementsprechend wirken Anwältinnen und Anwälte auf ihre Mandanten ein. Und es gibt wohl schon Personen, die taktieren. Ob ihre Reue echt ist, kann ich nicht beurteilen oder kontrollieren, da ich nicht in die Menschen hineinsehe.

 

Sind Sie gutgläubig?

Ja und nein. Als Seelsorger und Psychotherapeut verdächtige ich niemanden und höre möglichst offen und vorurteilsfrei zu. Vertrauen ist die Basis jedes therapeutischen und seelsorgerischen Gesprächs. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Person die Wahrheit sagt. Wobei ich genau zuhöre, allenfalls nachfrage, auf Widersprüche hinweise.

Spüren Sie bei den Tätern Sehnsucht nach Versöhnung?

Ja, bei der Mehrheit der Menschen, die in Haft sind. Nicht selten sind sie selbstkritisch. Zudem werden sie mit ihrer Tat konfrontiert, mit dem Ziel: Was braucht es, damit es nicht nochmals dazu kommt? Doch auch wenn Erkenntnis und Sehnsucht nach Versöhnung da sind, kann es zu Rückfällen kommen.

Der erste Schritt ist es zu erkennen und zu verstehen?

In der Untersuchungshaft werden die mutmasslichen Täterinnen und Täter auf sich selbst zurückgeworfen. Ihnen wird bewusst, welche Konsequenzen die Tat hat: dass sie zum Beispiel ihre Stelle verlieren oder ihre Familie stark belasten und allenfalls verlieren. Oft wird ihnen bewusst, was sie dem Opfer angetan haben. Ich erlebe, dass Menschen Reifungsprozesse durchmachen.

Wie ist das möglich?

Mit jahrelangem therapeutischem Prozess. Indem sie sich mit ihrer Tat auseinandersetzen und eine schwere Störung behandelt wird, auch mit Medikamenten. Und wenn es gelingt, sich von einem schwierigen Milieu zu lösen.

Welche Rolle spielt das Milieu?

Oft werden Verbrechen begünstigt, wenn man keine Arbeit hat, Suchtproblematiken vorliegen. Und bei einer schmerzhaften Geschichte, einem schwierigen Umfeld. Wobei dies nicht als billige Entschuldigung herhalten darf.

Stichwort Umfeld: Oft macht das Gefängnis die Menschen nicht besser. Es herrscht ein raues Klima.

Sicher kann man im Gefängnis Dinge lernen, die einem nicht guttun. Lange Gefängnisstrafen führen meist kaum dazu, dass man nie mehr im Gefängnis landen will, weil man sich der Folgen bewusst ist. Das Gefängnis ist nur bedingt der Ort, an dem man lernt, die Anforderungen des Lebens zu bewältigen.

Wie können Menschen in Haft das lernen?

Indem man mit den Klientinnen und Klienten frühzeitig mit der Realität arbeitet, die sie draussen erwartet. Entsprechend nötig ist es, draussen zu üben: zum Beispiel mit betreutem, begleitetem Wohnen, mit Bewährungshilfe.

Bücher:

  • Dieter Gurkasch, «Leben reloaded. Wie ich durch Yoga im Knast die Freiheit entdeckte». Kailash-Verlag.
  • Rudolf Szabo, Nicolai «Knallhart durchgezogen. Mein Leben zwischen Bankraub, Knast und der Suche nach Frieden». Hänssler Verlag.