Singen ist eine wichtige Verbindung von innen nach innen. Neben der Berührung ist die Stimme das wichtigste Kontaktorgan zwischen Kind und Eltern, zwischen Menschen überhaupt. Sie ist ein historisch und entwicklungspsychologisch erstrangiges Mittel für Verständigung und Kulturvermittlung. Singen und Musik tradieren Gefühle durch die Jahrhunderte und verbinden den Erdkreis.

Schon sehr früh in der Entwicklung – möglicherweise schon vor der Geburt – ist die Stimme der Mutter eine zentrale Verbindung zwischen ihr und ihrem Kind. Ihre Stimme tönt für das Neugeborene beruhigend, da sie ihm sagt: Die Mutter und ihre Geborgenheit ist da. Nach der Geburt tritt als zweites Orientierungsorgan die Geruchsbeziehung hinzu, die das Erkennen ihrer Nähe ergänzt.

Die Stimme vermittelt Gefühle

Die Stimme drückt – im Gegensatz zu geschriebenen Worten – nicht nur einen geistigen Inhalt aus, sondern vermittelt auch unmittelbar Gefühle. Das Lehnwort «Emotionen» führt uns auf eine weitere Fährte: Motion bedeutet lateinisch Bewegung. Die E-motion – der Ausdruck unserer inneren Bewegung – teilt sich über die Stimme direkt den Mitmenschen mit. Über tönende Stimme und hörendes Ohr ist unser Inneres also direkt mit dem Inneren des Sprechenden verbunden.

«Sind unsere Ohren nicht durch zu viel Lärmmüll betört oder verkümmert, verstehen wir unsere Mitmenschen in ihrem Gefühlsgehalt noch vor dem sprachlichen Verständnis.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Und dies ist die Situation der Kleinsten, bevor Ablenkung und Verbildung diese Kenntnisquellen eventuell verstopfen. «Vom Herzen möge es zum Herzen gehen» (Beethovens Widmung für sein Chorwerk «Missa solemnis»).

Unsere Stimme ist für die Entwicklung des Menschen sowohl psychologisch als auch stammesgeschichtlich ein Sonderfall. Zwar haben auch Tiere Stimmen und tauschen sich durch Lautgebung aus. Aber diese Wandelbarkeit und Vielfalt an Tönen, Untertönen, Lautstärken und schliesslich Rhythmik, Melodie- und Wortgestaltung kennen wir – jedenfalls bisher – nirgends ausser bei Menschen.

Singen wirkt beruhigend

Wahrscheinlich ist das Wiegenlied die Urform allen Singens. Noch vor jedem Sprachverständnis ist die Stimmmodulation – ob spontan kreativ oder im traditionellen Lied geformt – die früheste Mitteilung an das Kind. Diese vorsprachliche, stimmliche Kommunikation nennen wir Singen. Es braucht noch keine Stimmbildung oder Kunstverfeinerung, um auf das eigene Kind beruhigend zu wirken.

«Über die vertraute Stimme stellt sich eine ungewöhnliche Intimität ein. Und daher wirken Schlaflieder so beruhigend.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann
Singen Sie?

Ob Singsang, Summen oder gelernte Kinderreime: Dem Kind ist gleichgültig, ob die Mutter «singen kann». In seinen Ohren sind die vertrauten Klänge wichtiger als der «Sound». Daher wird es bis weit in die Kindergartenzeit hinein den selbstproduzierten Klang der elterlichen Stimmen den erst heute möglichen elektronischen Lautsprechertönen vorziehen – wenn es denn wählen kann.

Das Wiegenlied ist die Urkommunikation für den Säugling. Er wird bald versuchen nachzukrächzen, was ihm so wichtig ist. Selber Töne zu produzieren und sich selber zu hören löst eine tiefe Befriedigung aus. Schön, wenn andere antworten, einstimmen, zustimmen. Eigenen Tönen zuhören hilft auch, sich selber zu beruhigen. Nicht von ungefähr sagt das Sprichwort, dass das Pfeifen im Walde gut ist gegen die Angst vor Einsamkeit und Verlassenheit.

Singen verhilft zu Sozialkompetenzen

Wenn wir die tiefgreifende Bedeutung von Singen für die früheste Lebenszeit begriffen haben und ihre Dimensionen für das Miteinander und für den Bezug zu sich selber verstehen, können wir die gemeinschaftsbildende Aufgabe des Singens besser erfassen.

«Lieder transportieren nicht nur Inhalte. Chorgesang oder Singen in der Klasse ist eine verbindende Tätigkeit – ein im gemeinsamen Tun hergestelltes Gruppengefühl.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Besonders positiv ist, dass es nicht auf Konkurrenz abzielt. Im Gegenteil wird das Einfügen in den gemeinsamen Sound höher gewertet als das Hervorstechen mit der eigenen Stimme: Für narzisstische Kinder, die es schlecht ertragen, «nur» eines unter gleichen zu sein, kann dies eine pädagogisch wichtige Herausforderung sein, an der es viel zu lernen gibt. Aber auch für gruppenfähigere Kinder ist der Stellenwert des Schulgesanges im pädagogischen Kanon nicht hoch genug einzuschätzen.

Singen Sie?

Er ist zumindest dem Ziel sportlicher Ertüchtigung gleichzustellen. Meines Erachtens werden Singen und Musik – manchmal auf das Hören von Songs reduziert – in der Diskussion um Bildungsziele gewaltig unterschätzt. Ich glaube, dass mangelnder Schulgesang nicht nur eine kulturelle Verarmung ist, sondern auch das Erziehungsziel der Sozialkompetenz deutlich schwächt.

Positive gesundheitliche Auswirkungen des Singens

Neben den erwähnten emotionalen und geistigen Werten des Singens gibt es auch noch körperlichen und gesundheitlichen Gewinn: Da Singen zentral mit Atmen verbunden ist, hilft regelmässiges Singen auch zur Verbesserung der Atmung.

«Mit Singen verbundene Entspannung und die im Singen ausgelösten Körperresonanzen tragen zudem mächtig zu verbesserter Körpersensibilität (Selbstwahrnehmung) und so auch zum Stressabbau bei.»
Dr. phil. Ruodolf Buchmann

Musik beeinflusst die Stimmung

Das ist Musik in meinen Ohren. Die Redewendung greift die Bedeutung von Musik in der mitmenschlichen und kulturellen Dimension auf: Musik zielt auf Harmonie, Einverständnis, ja Völkerverbindung. Musik wird eingesetzt bei allen wichtigen Gemeinschaftsereignissen: An Festen, Hochzeiten und Totenfeiern, Paraden, Länderspielen oder in Gottesdiensten wird musiziert. Der gemeinsame Sinn aller Musik ist es, die Teilnehmenden in eine gemeinsame Stimmung zu bringen, also gefühlte Gemeinsamkeit herzustellen. Musik teilt sich über alle Sprachbarrieren hinweg den Hörenden – und stärker noch den Mitsingenden – mit. Dadurch erzeugt sie zumeist Hochstimmung, Freude und Glücksgefühle der Zugehörigkeit. Für manche wirkt sie gar heilend.

Nicht zufällig verwendet unsere Sprache in der Musikbeobachtung dieselben Begriffe, die wir für die Beschreibung von Gruppenprozessen und -zuständen in der Sozialpsychologie benutzen: Harmonie, Disharmonie, gute Stimmung oder Verstimmungen, Zusammenspiel, Einstimmen usw. Musik ist Gefühlskommunikation. Sie kann verhärten und kampfbereit machen (wollen), sie kann in Trauer einstimmen, sie kann zusammenschweissen, Aufruhr anstacheln oder Trost und Beschwichtigung spenden. Oft ist sie stärker in ihrer Wirkung und wird von den Hörern rascher verstanden als das gesprochene Wort.

Musik wirkt generationen- und völkerverbindend

Aus der komponierten Musik wird die Stimmung früherer Generationen erlebbar. Wenn wir gewisse Gesänge als verstaubt oder vielleicht gar abstossend wahrnehmen, geben sie uns doch Zeugnis der Gefühlslage jener Zeit: Emotionale Geschichtskunde könnte man sagen. Überwinden wir den – zu jeder Zeit bestehenden – Generationendünkel, dass wir «Modernen» weitergekommen sind und das Veraltete nichts mehr wert sei, können wir uns auf die geistigen Zeitzeugen einlassen. Neben der in Sprache gefassten Interpretation der jeweiligen Zeit übermitteln sie auch die emotionale Befindlichkeit. Die Beschäftigung mit der Musik früherer Generationen stiftet so eine Vertiefung des Verständnisses in frühere Erlebensweisen. Vielleicht ist die «höhere» Kunstmusik mehr ein Feld für Spezialisten oder benötigt spezielle musikalische Interessen. Allerdings sprechen gut gespielte Kompositionen meist doch direkt zu den Hörern, wenn sie bereit sind zu lauschen.

Musik ertönt überall und wohl fast alle Menschen werden von ihr berührt: Die sogenannte «Volksmusik» ist ein Kulturgut, das breite Bevölkerungsschichten trägt und verbindet. Wie der Name sagt, transportiert Volksmusik das Befinden und das Gestalten der eigenen, ortsansässigen Kultur.

«Sie trägt ein gutes Stück zur heimatlichen Identitätsstiftung bei. Ihre Verwendung und Wertschätzung sagt etwas über die jeweilige Einstellung zur eigenen Herkunft aus.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Lieder prägen unsere Weltauffassung

Mit dem Sound anderer Kulturen lassen wir uns auf deren Weltauffassung – insbesondere auf deren Gefühlseinstellungen und Emotionalität – ein. Wir sollten uns Gedanken machen: Welche Musik bieten wir an? Wie breit gefächert oder wie schmal ist das Angebot, das im Gesangs- und Musikunterricht vertreten ist? Was wird (von wem?) an die Kinder herangetragen und was ihnen im Unterricht vorenthalten? Wer befähigt die Lehrer*innen, ihre Kompetenzen auszubauen und wie werden sie für vielfältige Musikangebote begeistert (motiviert)?

In der Auswahl vermitteln wir verschiedene Kulturen und Haltungen gegenüber der Welt. Und dabei geht es nicht in erster Linie um die Textinhalte. Form und musikalischer Ausdruck prägen das Verständnis viel stärker, weil die nonverbalen Anteile von Melodie und Rhythmus dem intellektuellen Urteil weniger auffallen und so unter dem eigenen Bewusstsein «hindurchschlüpfen». Bei solchen Fragen geht es mir um Horizonterweiterung und möglichst breite Vielfalt.

Singen Sie?
«Gerade Lieder aus verschiedenen Ländern und mit ihren verschiedenen Sprachen können Kindern das Gemüt für andere Sichtweisen und Stimmungen öffnen. Unser eigenes Liedgut sollte darob aber nicht zu kurz kommen.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Wie Sie aus meinen vorgängigen Artikeln wissen, sehe ich die Auflösung von Abgrenzungen kritisch. Mir liegt Vielfalt besonders am Herzen und Vielfalt gibt es nur dort, wo verschiedene (d. h. unterscheidbare) Stilrichtungen, Musikgenres und Ausdrucksformen gelebt werden. Das Ziel muss sein, Verständnis und Verständigung zu fördern. Dies ist etwas grundlegend anderes als die blosse Übernahme von – in unserm Zusammenhang – Liedgut anderer Kulturen oder aktuell modischer Strömungen.

Gesang fördert Gemeinsamkeit und Dazugehörigkeit

Obwohl wir von vielen Lautsprechern und Kopfhörern umsummt und umdröhnt sind, möchte ich alle, die mit Kindern zu tun haben, ermuntern, so viel wie möglich selber zu singen und Kinder und Jugendliche dazu zu bringen, die Musik aus sich selber klingen zu lassen.

«Ich denke, wir hören zu viel und singen zu wenig. Denn Hören ist immer eine vereinzelte Tätigkeit. Wenn wir gemeinsam singen, gehen wir auch soziale Beziehungen ein und stärken damit unsere Gemeinsamkeits- und Dazugehörigkeitsgefühle.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

In der Hörergemeinschaft am Rockkonzert kann zwar ein Gefühl der Verbundenheit mit der Gemeinschaft der Hörenden entstehen, aber wir sind dabei nicht «tätig verbunden». Die Musik stachelt zu gemeinsamem Tun an, bietet aber keinen Raum dazu – ausser in Tanzveranstaltungen. Vielleicht sind gewisse Ausschreitungen nach Rockkonzerten als Ersatztätigkeit zu verstehen, um den Zusammengehörigkeitswunsch auszuleben, der beim gemeinsamen Hören erregt, aber in keine Aktion geführt wird.

Aktive Gemeinsamkeit gibt es im gemeinsamen Musizieren! Zwar ist auch im Streichquartett oder im Blockflötenensemble tätige Gemeinsamkeit gegeben. Aber erstens ist der Aufwand viel grösser, das Instrument zu beherrschen und zweitens ist das Instrument bereits weiter von unserm Inneren entfernt, weil ich es nicht in mir zum Klingen bringe. Im Singen ist der ganze Körper beteiligt, ich bin das klingende Instrument.

Mut zum Singen

Jedem und jeder steht die eigene Stimme zur Verfügung; auch wenn sie nicht jede*r gleich präzis und bestimmt für Melodien und Rhythmen einsetzen kann. Aber es muss auch nicht immer die höchste Kunststufe sein.

Singen Sie?

Versuchen Sie es mit Ihren Kindern! Versuchen Sie es für sich selber, zum Beispiel in einem Chor! Spornen Sie – so Sie mit Kindern zu tun haben – diese an, sich nicht zu genieren und mitzumachen. Wappnen Sie sich gegen den bei Adoleszenten oft beobachtbaren Gruppendruck, gemeinsames Singen «blöd» zu finden. Vielleicht kann man da mit dem Verständnis etwas erreichen, dass es oft etwas Mut braucht sich zu exponieren. Da im Singen das Innere unmittelbar gehört wird, braucht es vielleicht sogar viel Mut. Um es mit Seume zu sagen: «Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder»! Ich ergänze den Dichter nur: «Lass Dich nicht nur nieder, sondern singe mit!»