«Nach dem Spiel ist vor dem Spiel», um für einmal eine alte Fussballer-Weisheit zu zitieren. Will in diesem Falle heissen: Von Juni bis August herrscht im Management eines Profiklubs Hochbetrieb. Umso grösser die Freude, dass Christoph Spycher, VR-Delegierter Sport bei YB, Zeit hat für ein Interview – und dabei kein bisschen gestresst wirkt.
Wenn der Jubel beim Public Viewing im Klubhaus fast keine Grenzen kannte, war klar: Christoph Spycher läuft für die Schweizer Nati auf! Aus Sicht von uns Fans vor Ort – Aktive und Freunde des FC Sternenberg – waren die 47 Länderspiele «vo üsem Wuschu» fast wie Feiertage.
Der familiäre FC Sternenberg, angesiedelt im idyllischen Schlatt – zwischen Oberscherli und Köniz – ist der Verein, wo Christoph Spycher das fussballerische Einmaleins erlernte. Wer hätte gedacht, dass auf diesem beschaulichen «Bitz» der Grundstein gelegt würde für eine lange, erfolgreiche (Profi-)Karriere?
Über die Jahre durfte ich ihn auch als Spieler immer wieder mal live erleben: An der EM 2004 in Portugal, bei der Eintracht in Frankfurt, zuletzt bei YB. Während seinem Engagement in der Bundesliga nahm Christoph sich immer Zeit für seine vielen Gäste und Freunde aus der Schweiz, sorgte für Tickets und Unterkunft im Mannschaftshotel, organisierte gemeinsame Essen – für ihn eine Selbstverständlichkeit.
Und auch, dass ich die magische Nacht des 28. April 2018 unverhofft im Wankdorf-Stadion miterleben durfte, habe ich ihm zu verdanken: Er hatte kurzfristig noch ein paar letzte Tickets zu vergeben.
Inzwischen ist er auch in seiner zweiten Karriere längst etabliert, hat beim BSC Young Boys als Talentmanager, Sportchef und VR-Delegierter Sport zu grossen Erfolgen beigetragen. Was mich über all die Jahre fasziniert hat: Christoph Spycher ist immer sich selbst geblieben. Authentisch, offen, reflektiert, bescheiden und geerdet. Er bedient keines der gängigen Fussballer-Klischees – auch das macht ihn so sympathisch.
Für meinen letzten Blickpunkt hätte ich mir keinen besseren Gesprächspartner wünschen können.
Wir stecken momentan in der Kaderplanung. Da laufen verschiedene Dinge, wir schauen nach Ergänzungen, Verstärkungen; andererseits gilt es, die «Temperatur zu fühlen», welche Spieler uns allenfalls noch verlassen könnten.
Heute morgen (23. Juni, Anm. der Red.) war Trainingsstart für die Mannschaft, das gibt sofort einen anderen Groove und sorgt dafür, dass viele Dinge rund um die Mannschaft sofort erledigt oder angegangen werden müssen.
Der Gewinn der Meisterschaft war eine riesige Erleichterung und grosse Befriedigung für all die Leute, die viel investiert haben in diesen Meistertitel. Da sind in erster Linie Steve von Bergen als Sportchef und Raphael Wicky als Trainer; aber auch der ganze Staff, die Mannschaft und das gesamte Team im Hintergrund, die einen grossartigen Job gemacht haben und entsprechend belohnt worden sind. Dann ging es relativ lange mit den verschiedenen Feierlichkeiten, weil wir so früh dran waren; es hat sich so hingezogen mit dem Cupfinal am Saisonende.
Ja, es hat gedauert, und dann mussten alle wieder über die Grenzen gehen. Der Match an sich war ein Spektakel, wir haben die erste Halbzeit sehr gut gespielt und in der zweiten gelitten. Der Sieg war eine Befreiung, eine tiefe Befriedigung – aber letztlich kam dann tatsächlich eine gewisse Leere.
Die Spieler gingen dann in die wohlverdienten Ferien. Und wir von der sportlichen Führung konnten somit in Ruhe arbeiten (lacht). Da laufen schon längst wieder Abklärungen, Evaluationen, viele Gespräche, erste Transfers … So gesehen ist für uns das Double nicht sehr lange her, war aber gefolgt von einer intensiven Zeit. Doch mit unserem kompetenten und coolen Team lässt sich das bewältigen.
Wir sind anders getaktet als die Mannschaft und der Trainerstaff, die nach dem Cupfinal unbedingt ihre Batterien aufladen mussten. Wir können dann ab September durchschnaufen. Wenn am 31. August die Transferfenster in den grossen Ligen schliessen, ist «ein Pflock eingeschlagen», dann sollte die Mannschaft komplett sein.
Bis dahin ist es hoch intensiv; aber inzwischen haben wir gute Kapazitäten, viele Leute, die mitarbeiten, sodass alle auch mal eine Pause machen können.
Sicher die grosse Identifikation: Zu sehen, welche Bedeutung dieser Verein in Frankfurt, ja in ganz Hessen geniesst, das war schon sehr beeindruckend. Andererseits hat das auch viel Druck erzeugt.
Im Profifussball herrscht immer Druck, aber in Deutschland ist das eine höhere Stufe; und der Druck wird auch relativ ungefiltert an die Spieler weitergegeben. Das ganze Drumherum, vergleichbar mit dem Rummel um die Schweizer Nati an grossen Turnieren, ist in der Bundesliga Alltag. Damit umzugehen, hat mich geprägt, das konnte ich mitnehmen.
Eigentlich war YB damals in einer guten, stabilen Entwicklung, mit CEO Stefan Niedermaier hatte ich einen Karriereplan vereinbart mit dem Ausblick auf eine zweite Karriere im Fussball – und dann kam vieles anders.
… zwei Monate nach meiner Ankunft bei YB. Es gab viele Turbulenzen, verschiedene Führungs- und drei Trainerwechsel in vier Jahren, so einiges lief nicht gut. Trotzdem bin ich stolz, dass ich für YB spielen durfte; ich habe mich wohlgefühlt und versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Und schlussendlich kam es – auch bei all den Wechseln – ja dann doch noch so, wie wir es ursprünglich geplant hatten.
Ich bereue es nicht, habe auch kaum gehadert, denn wenn ich einen Entscheid gefällt habe, stehe ich auch dazu. Letztlich war es eine sportlich turbulente, aber ansonsten lehrreiche Zeit.
Natürlich war das ein Traum: Ich durfte ja 2003 mit GC schon den Meistertitel gewinnen, und das auch in Bern zu erleben, war meine Hoffnung. Zudem stimmte die Richtung, YB kam immer näher an den FC Basel heran, bis hin zur verlorenen Finalissima.
Der Titel wäre das Ziel gewesen, aber mit den ganzen Umwälzungen ging die Stabilität verloren. Es kam damals nicht, wie geplant – aber dafür später.
Es ist eine andere Zeit, eine andere Generation. Das ganze Drumherum, insbesondere mit den sozialen Medien, war zu meiner Zeit noch eine Randnotiz; heute macht es vieles komplizierter, weil die Spieler da auch eine grosse Angriffsfläche bieten.
Ein anderes Thema ist die Selbstständigkeit: Die heutige Generation bringt meist ein sehr gesundes Selbstvertrauen mit, was gut ist, und auch ein grosses persönliches Umfeld. Das heisst für uns, dass wir dieses Umfeld miteinbeziehen müssen, um einen guten Zugang zu finden.
Es ist einfach grundsätzlich eine spannende Aufgabe, mit jungen Menschen zusammenzuarbeiten.
Ja, der Wechsel ist wirklich super gelaufen. Der schwierigste Moment für jeden Spitzensportler ist, die aktive Karriere zu beenden. Zu sagen: Das war’s. Sei es wegen einer Verletzung, aus Gründen, die automatisch dazu führen, oder durch einen Entscheid seitens des Vereins oder des Sportlers.
Für den Einstieg in die zweite Karriere gilt mein grosser Dank den Personen, die mir das ermöglicht haben. Weil der Job neu war, konnte ich sehr viel gestalten; andererseits war es anfangs auch nicht ganz einfach, nicht «verlorenzugehen», da es keine Anhaltspunkte gab. Aber ich wurde von dem tollen Team im Nachwuchs schnell als bereicherndes Element auf-, wahr- und auch ernst genommen.
Auch das ist problemlos gelaufen, vor allem wegen der Leute um mich herum, die schon länger in ihren Positionen waren und das nötige Know-how hatten. Natürlich war ich darauf angewiesen; es war sehr lehrreich und intensiv. Alles im allem war es eine tolle Zeit, von der ich als Mensch, als Persönlichkeit viel profitieren konnte.
Und obschon es eine sportlich erfolgreiche Phase war, gab es schwierige Momente. Aber das kannte ich ja schon als Spieler, ich hatte die nötige Resilienz. Wenn man in der Öffentlichkeit steht, sind die Ausschläge gegen oben und unten halt viel extremer.
Damit sind wir beim Thema, wie gewisse Dinge in der Öffentlichkeit dargestellt werden.
Da braucht es immer plakativ Gesichter, sei es im Erfolg oder im Misserfolg – eine extreme Zuspitzung, die nicht der Realität entspricht.
Ja, die Teamarbeit macht uns aus, das betonen wir auch immer wieder. Wir haben kompetente Mitarbeitende, die in ihren Spezialgebieten einen guten Job machen. Zudem pflegen wir einen sehr teamorientierten Führungsstil und versuchen so, das Expertenwissen reinzuholen.
Unsere Devise ist, dass dieser Verein so gut laufen muss, wie es nur geht – und er nicht von einzelnen Personen abhängig sein soll oder sein darf.
Schlussendlich sind es die Qualität der Arbeit und die Kompetenz der Leute, die entscheidend sind. Wir sind extrem kritisch und schwer zufriedenzustellen; es muss unser Anspruch sein, nach Perfektion zu streben – im Wissen, dass wir die Perfektion nicht in allen Bereichen erreichen können.
Zwar ist das unser Ziel; aber es geht nicht immer auf.
Das kann ich aktuell schlicht nicht sagen. Kann sein, dass ich ein Leben lang bei YB bleibe; kann aber auch sein, dass es mich nochmal reizt, im Ausland eine Erfahrung zu machen – oder in einer ganz anderen Branche. Letztlich muss es mich glücklich machen. Ich halte mir da alle Optionen offen.
Die Verbundenheit, die Liebe zu einem Verein zeigt man aus meiner Sicht dadurch, wie man seinen Job macht; YB wird immer sehr wichtig sein für mich.
geb. 1977, VR-Delegierter Sport BSC Young Boys
«Fussball-Lehrjahre» (1986–1999): FC Sternenberg, FC Bümpliz 78, FC Münsingen
Stationen als Profi (1999–2014): FC Luzern, Grasshopper Club Zürich (GC), Eintracht Frankfurt, BSC Young Boys. Schweizer Meister mit GC (2003). 47 Spiele für die Schweizer Nationalmannschaft (2002–10)
Zweite Karriere: 2014–16 Talentmanager BSC Young Boys, anschliessend Sportchef; seit Mai 2022 VR-Delegierter Sport YB
Christoph Spycher lebt mit seiner Frau und den beiden Söhnen in Bern.