Die einen fürchten sich vor ihr – andere sehnen sie herbei: Zeit für sich selbst, mit sich selbst. Um zu spazieren, zu joggen, zu lesen, zu meditieren, zu trödeln. Dieses neue psychologische Phänomen heisst «Aloneliness».

Mitten im Sommer, mit Sonne und Meer: der ersehnte Trip, gemeinsame Entdeckungen, Erkundungen warten. Doch als wir ankommen, will ich nur eins: Zeit für mich. Ich bin müde, kribbelig, nicht angekommen. Weder im Ferienmodus noch in diesem – eigentlich bezaubernden – Villaggio. Soll ich sagen, dass ich zwei Stunden für mich allein benötige? Wie gut wird meine Begleitung damit umgehen können? Wird sie es persönlich nehmen?

Sie weiss zum Glück: Ich bin jemand, der Zeit für sich braucht – Aloneliness. Ich mache mich auf die Suche nach einer hübschen Terrasse, schreibe in mein Tagebuch. Dazu schlürfe ich einen Espresso, beobachte die flanierenden Menschen, tauche ein in den Geräuschemix von klapperndem Besteck, von Stimmen und Wind, lasse mich von der Sonne streicheln. Dann bin ich für unsere Ferien bereit. Jetzt ist gemeinsame Zeit angesagt – das Bedürfnis nach Aloneliness ist gedeckt.

Zwischen Wunsch und Realität

Der Begriff Aloneliness kommt vom englischen «alonely» – allein. Dabei handelt es sich um ein psychologisches Phänomen, das diese Kluft benennt. Jene zwischen dem Wunsch, Zeit mit sich selbst zu verbringen und den äusseren Umständen, die dies nicht erlauben: Man ist in Alltag, Aufgaben und Verantwortung so eingespannt, dass es keinen Raum dafür gibt.

Das Phänomen wird breit diskutiert. Dies, seit der kanadische Psychologe Robert Coplan in einer Untersuchung knapp 1000 Personen gefragt hat: «Fühlen Sie sich schlecht, wenn Sie zu wenig Zeit allein verbringen?»

«Alleinsein auf eigenen Wunsch hat etliche positive Effekte, so das Fazit der Untersuchung: Man neigt weniger zu Depressionen, erbringt bessere Leistungen.»
Marcel Friedli

Viele Ratgeber*innen empfehlen zudem, auch in Liebesbeziehungen ab und zu Pause voneinander zu machen. Auch diese kurzen Time-outs haben einen (englischen) Namen: «uncoupling». Also das kurzzeitige Entkoppeln von Paaren.

Aloneliness ist jedoch nicht mit Einsamkeit zu verwechseln: Einsamkeit, wovon in der Schweiz jede dritte Person betroffen ist, wählt man nicht selbst. Sie kommt von aussen auf einen zu: zum Beispiel durch einen Shutdown, eine Trennung oder wenn jemand stirbt, der einem nahe stand. Intensiv empfunden, kann Einsamkeit zu Ängsten und Erkrankungen führen.

In meiner Welt

Aloneliness hat mich begleitet, als ich noch nicht wusste, dass es dereinst einen Namen dafür geben würde. Schon als Junge war ich gerne allein, in meiner Welt. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, Termine und Treffen, Aktivitäten und Verpflichtungen in einem Mass zu dosieren, das mich nicht überreizt – mit eingeschobenen Momenten von Aloneliness: Tagebuch schreiben, meditieren, Yoga praktizieren, lesen, spazieren gehen. Ich mag Zeiten, in denen ich nichts vorhabe – um dann zu schauen, was ich mit dieser Zeit anstelle: durch die Stadt oder den Wald streifen. In einem Buch lesen, Musik hören.

Ob ich ein Einzelgänger bin? Nein, ich bin nicht nur dann zufrieden, wenn ich Zeit allein verbringe. Ich schätze es auch, etwas mit Freundinnen und Freunden zu unternehmen, Zeit in angenehmer Gesellschaft zu verbringen. Das Bedürfnis nach einer Zwischenzeit für mich taucht auf, wenn ich für mein Empfinden zu sehr von aussen beansprucht werde – Aloneliness ahoi!

«Aloneliness braucht Mut»

Jeder Mensch ist anders – und es ist von Kultur zu Kultur verschieden: Psychotherapeut Reiner Heidelberg erläutert das psychologische Phänomen Aloneliness.

Ist Aloneliness ein Erstwelt­ und Luxusphä­nomen?

Es gibt Kulturen, in denen man auf Unverständnis stösst, wenn man allein sein möchte. Man ist so aufgewachsen und identifiziert sich damit, ein Mitglied einer Familie oder eines Clans zu sein. Wenn sich jemand mit der Gruppe gleichsetzt, dann gibt es keinen Grund, allein sein zu wollen.

Wie ist es in unserer Kultur?

In unserer Kultur identifizieren wir uns viel stärker als Individuum. Als unterschiedlich von anderen. Um mit sich selbst als Individuum in Verbindung zu bleiben, ist es hilfreich, sich immer wieder allein zu spüren.

Soll Aloneliness­-Zeit mit einer Tätigkeit verbunden sein? Oder reicht es, zu schauen, was sich ergibt?

Wenn Aloneliness-Zeit «Quality-Time» sein soll, ist es empfehlenswert, sich zu überlegen, was einem wirklich guttut, wenn man endlich mal allein ist. Sonst verfällt man leicht in Ablenkungen wie Filme schauen, chatten usw.

Was wäre besser als das?

Die hohe Kunst von Aloneliness ist, sich bewusst zu entscheiden, allein zu sein. Ohne vorherige Planung genau zu spüren, was man in diesem Moment braucht. Dann ist man in lebendigem Kontakt mit sich selbst.

Welcher Typ braucht warum mehr Zeit für sich?

Hochsensible Menschen. Sie nehmen zum Beispiel differenziert wahr, wie es anderen geht und was in ihrer Umgebung abgeht. Durch viel Kontakt fühlen sie sich mit der Zeit überwältigt, ausgelaugt – sie brauchen unbedingt Zeit allein. Sonst werden sie krank. Wir sind alle in einem gewissen Sinn sensibel. Darum brauchen wir hin und wieder Erholung vom gewaltigen Input an Informationen und Sinneseindrücken.

Wer empfindet Aloneliness als Langeweile – und warum?

Wenn man Langeweile verspürt, sollte man sich fragen, was man im Moment vermeidet oder verdrängt. Welches Bedürfnis, welches Gefühl lässt man nicht zu? Bei Langeweile gibt es ein Rezept: Man strengt sich körperlich an. Nachher spürt man sich besser. Und man kann das Nichtstun geniessen.

Aloneliness kann auch von aussen kom­men. Zum Beispiel, wenn man verlassen wird. Ist das dann Einsamkeit?

Ist man unfreiwillig allein, fühlt man sich einsam. Das ist «Loneliness» im Gegensatz zu Aloneliness. Verharrt man nicht in der Opferrolle, sondern schaut, wie sich das nutzen lässt – dann kann man Einsamkeit in Aloneliness verwandeln.

Welche Rolle spielt Aloneliness für Paare?

Aloneliness wird auch als der Zustand definiert, wenn man eigentlich allein sein möchte, aber nicht dazu kommt. Das ist relevant für Partnerbeziehungen. Häufig landet man in einer Beziehungsroutine, in der die Lebendigkeit verloren geht. Vielleicht fühlt man sich im Zusammensein dann gelangweilt, dumpf, diffus genervt, obwohl man nichts Grundsätzliches an der Partnerin oder am Partner auszusetzen hat. Wird das chronisch, gefährdet es die Beziehung.

Was kann man dann machen?

Vielleicht ist es angezeigt, am gemeinsamen Fernsehabend fünf Minuten wegzugehen. Um sich und die eigenen Bedürfnisse wieder wahrzunehmen. Und danach der Partnerin, dem Partner zu sagen: «Ich möchte lieber etwas anderes machen.» Vielleicht braucht es ein Wochenende oder Ferien allein. Damit man sich nachher wieder auf den anderen freut und etwas zu erzählen hat. Aloneliness braucht Mut und kreiert für sich und die Beziehung eine neue Chance.