Die Frage, ob jemand ein guter Mensch ist, ist gar nicht so leicht zu beantworten. Die Frage an sich aber finde ich sehr interessant.

Abschiedsworte

Kürzlich war ich gleich zweimal an einer Beerdigung. Dabei ist es üblich, dass von den Verstorbenen während der Abschiedsfeier ein Lebenslauf vorgetragen wird. Manchmal sind diese Texte etwas kürzer, manchmal aber auch länger. Und dann sind oft mehr oder weniger gleiche Sätze zu hören: «Sie verbrachte zusammen mit ihren drei Geschwistern eine glückliche Jugend» … «Er war stets hilfsbereit und in seinem Freundeskreis äusserst beliebt» … «Seinen Kindern war er ein vorbildlicher Vater» … «Sie war eine stets zuverlässige Mitarbeiterin» … Und nicht selten ist dann auch noch Folgendes zu hören: «Seine Frau schenkte ihm zwei Kinder» …

Wenn bei einer Abdankungsfeier ein Lebenslauf vorgetragen wird, klingt das also meist so, als ob gerade ein Heiliger oder ein Engel gestorben wäre. Nach diesen beiden Beerdigungen habe ich mir die Frage gestellt, wie es wohl einmal an meiner Beerdigung klingen wird. Wer würde meinen Lebenslauf erzählen? Und was würde dabei erzählt?

Bin ich ein guter Mensch?

Kinder sind ein gegenseitiges Geschenk

Doch davon später, zuerst muss ich unbedingt etwas zur Formulierung «Sie schenkte ihm zwei Kinder» loswerden. Diese Formulierung hat mich schon immer sehr irritiert. Heisst das also, dass jedes neugeborene Kind ein Geschenk der Frau an den Erzeuger ist? Gebären denn Frauen nur Kinder, damit sie ihren Männern ein Geschenk machen können? Oder ist das eine Formulierung aus längst vergangenen Tagen, an denen eine Bäuerin unbedingt einen Sohn gebären musste, um die Zukunft des Hofes zu sichern oder in vielen Königshäusern sehnlichst auf einen männlichen Nachfolger gehofft wurde?

Also ich hoffe doch schwer, dass niemand auf die Idee kommt, an meiner Beerdigung zu erzählen, dass meine Frau mir zwei Kinder geschenkt hat. Ich habe zwei Kinder, doch meine Frau hat mir diese nicht geschenkt. Wir beide zusammen wollten diese Kinder, wir haben sie zusammen gezeugt und auch zusammen aufgezogen. Somit würde ich es eher als ein gegenseitiges Geschenk bezeichnen, die Freude meiner Frau an den Kindern war nämlich zumindest gleich gross wie meine Freude. Dass Männer «nur» zeugen und nicht gebären können, liegt in der Natur der Sache. Immerhin kann ein Mann seine Partnerin während der Schwangerschaft und bei der Geburt unterstützen sowie bei der Erziehung und Pflege der Kinder gleichermassen Verantwortung übernehmen. Und ich glaube, das habe ich auch getan.

Gut und Böse

Und nun zurück zu den Sätzen, die mit Superlativen gespickt sind («glückliche Jugend, immer hilfsbereit, äusserst beliebt, stets zuverlässig» etc.). Klar gibt es Menschen, die eine glückliche Jugend hatten, die gute Väter waren, ganz tolle Mitarbeiterinnen und fast überall beliebt waren. Doch ist das nicht manchmal alles ein wenig Schönrederei?

«(...) ist es okay, wenn nach dem Tod eines Menschen nur seine guten Seiten erwähnt werden und der Rest verschwiegen wird?»
Albin Rohrer

Man weiss doch, dass es auch Verstorbene gibt, die etwas schwierig waren im Umgang und die man nachträglich nicht unbedingt als Engel oder Heilige bezeichnen kann. Wir wissen ja auch, dass es in der Welt und unter Menschen nebst viel gutem auch Geiz, Neid, Hass oder Eifersucht gibt. Es gibt Menschen, die lügen und betrügen, die für andere keine Verantwortung übernehmen und ziemlich egoistisch durchs Leben gehen. Es gibt bekanntlich viel Leid und Schmerz in der Welt von Menschen ausgelöstes Leid und ebenso menschengemachter Schmerz. Müsste das an Beerdigungen nicht doch auch erwähnt werden oder ist es okay, wenn nach dem Tod eines Menschen nur seine guten Seiten erwähnt werden und der Rest verschwiegen wird?

Erliches Selbstbild

Was wird einmal an meiner Beerdigung erzählt? Auch nur Gutes? Ein Heiliger oder ein Engel war ich nämlich nicht, auch war meine Jugendzeit nicht immer nur glücklich, ebenso mochten mich nicht immer alle, die mit mir zu tun hatten. Freundlich war ich auch nicht immer, vor allem dann, wenn ich in meine Gedanken versunken etwas achtlos durch die Gegend lief. Als 12-Jähriger habe ich zudem einmal an einem Kiosk zwei Mars und einen Mohrenkopf geklaut. Oft habe ich auch geflucht, beim Spielen zum Beispiel, wenn ich das Gefühl hatte, wieder einmal beim Würfeln Pech gehabt zu haben. Ab und zu habe ich sogar gelogen, wenn es darum ging, mir durch eine kleine Schummelei einen Vorteil verschaffen zu können. Ich habe mich auch – vor allem an der Fasnacht – mehrmals betrunken, zudem beging ich noch weitere kleinere und auch ein paar wenige mittelschwere Sünden, über die ich hier jetzt aber nicht reden möchte …

Also ein Heiliger war ich definitiv nicht! Dafür aber war mein Leben sicher nicht so langweilig wie dasjenige eines kastrierten Hamsters in einer mit Sägemehl gefüllten Holzkiste. Ich habe übrigens auch schon daran gedacht, den Lebenslauf für meine Beerdigung frühzeitig selber zu verfassen, damit dieser beizeiten den wahren Begebenheiten entspricht.

Heikle Selbsteinschätzung

Und wie bin ich denn grundsätzlich als Mensch? Bin ich ein guter Mensch? Wer kann denn überhaupt beurteilen, was gut und was böse ist? Was soll der Urteilende als Massstab nehmen? Die Bibel? Oder irgendwelche philosophischen Erkenntnisse? Wenn ich mich jetzt selber beurteilen soll, aufgrund welcher Fakten und Umstände soll ich mich bewerten? Selbsteinschätzungen sind ja bekanntlich immer etwas heikel, vor allem auch deshalb, weil wir es bei Selbsteinschätzungen stets mit dem berühmten «blinden Fleck» zu tun haben.

Das heisst, wir alle haben Verhaltensweisen und Muster, die uns selbst gar nicht bewusst sind, die aber auf andere unter Umständen eine grosse Wirkung haben können. In zahlreichen Weiterbildungen, die ich als Berater und Seminarleiter über mich ergehen lassen musste, war genau diese Frage immer wieder ein Thema. Und so merke ich, dass es tatsächlich ziemlich tückisch sein könnte, wenn ich den Lebenslauf für meine Beerdigung jetzt schon selber verfassen würde.

Dazu kommt ja noch, dass ich jetzt in einem Alter bin, in dem theoretisch noch mehr als 20 Jahre vor mir liegen. Und was passiert denn mit mir in all diesen Jahren? Werde ich vielleicht ein besserer Mensch oder entwickeln sich bei mir Verhaltensweisen, die andere dann nur noch nerven? Werde ich vielleicht ein alter, eigensinniger, sturer Bock? Die Sache ist also nicht ganz einfach. Doch eine Idee habe ich …

«In einem Arbeitszeugnis darf grundsätzlich nichts Schlechtes über jemanden geschrieben werden. (...) In solchen Fällen wird dann einfach das Thema (...) weggelassen. Und das entspricht dann genau der Vorgehensweise beim Verlesen von Lebensläufen an Beerdigungen.»
Albin Rohrer

Fokus auf das Gute

Im Laufe meines Berufslebens haben sich mehrere Arbeitszeugnisse angesammelt. Diese geben ja nicht nur Auskunft über die fachlichen Fähigkeiten, sondern auch über die so genannten «Selbst- und Sozialkompetenzen.» Das sind dann jeweils Beschreibungen, wie sich jemand als Mensch, als Mitarbeiter, als Untergebener oder Vorgesetzter verhalten hat. Von Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Loyalität, Wertschätzung, Korrektheit und Ähnlichem ist dabei die Rede. Von den Selbst- und den Sozialkompetenzen weiss der Mensch übrigens, dass diese sich vom beruflichen zum privaten Bereich nicht wirklich unterscheiden. Das heisst: Ist jemand bei der Arbeit freundlich, ehrlich und korrekt, so ist er das auch im Privaten.

Also: Ich krame alle meine Arbeitszeugnisse hervor und lese diese genau. Dabei fällt mir aber noch etwas ein: In einem Arbeitszeugnis darf grundsätzlich nichts Schlechtes über jemanden geschrieben werden. Die Formulierung «er war selten zuverlässig», wäre also nicht erlaubt. In solchen Fällen wird dann einfach das Thema «Zuverlässigkeit» weggelassen. Und das entspricht dann genau der Vorgehensweise beim Verlesen von Lebensläufen an Beerdigungen …

Also: Ich glaube, ich werde meinen Lebenslauf nicht selber verfassen, das soll sonst irgendjemand tun. Und ich will mich auch nicht abschliessend selbst beurteilen. Eines weiss ich aber: Im Sinne der Corona-Massnahmen, beziehungsweise der staatlichen Impfstrategie, war ich sicher nicht systemrelevant, doch nach meinem Ableben wird das auch keine Rolle mehr spielen …