Rund 3,5 Prozent der Schweizer Bevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens an einer Essstörung. Der Übergang zu einem schädlichen Ernährungsverhalten geschieht oft kaum bemerkt.

Du bist, was du isst

«Du bist, was du isst», sagt eine Redensart. In ihr steckt viel Wahres; Ernährung ist sehr eng mit der eigenen Identität verknüpft. Ein Beispiel: Menschen, die erfolgreich abgespeckt haben, schauen mit Stolz und Wohlgefallen in den Spiegel und ernten Komplimente. Andere, die mit ihren Diäten immer wieder scheitern, weichen dem Blick in den Spiegel aus – sie schämen sich für ihr Erscheinungsbild. Zudem machen sie sich Vorwürfe über ihre unzureichende Selbstdisziplin.

Essen ist weit mehr als Nahrungsaufnahme; es spielt dabei viel Psychologie mit. So schlägt vielen Menschen Ärger und Stress auf den Magen und verdirbt den Appetit. Andere dagegen füllen ihren Bauch, wenn sie sich einsam und enttäuscht fühlen. Man kann demnach aus Lust oder auch aus Frust zur Tüte mit Chips, zum Tortenstück oder zum Glas Prosecco greifen.

«Essen und Trinken prägt die Einstellung zu sich selbst. Zuneigung oder auch Abneigung zeigt sich auch in der Küche und am Esstisch.»
Adrian Zeller

Die Redewendung «Liebe geht durch den Magen» bringt diese Haltung auf den Punkt: Man kann sich selbst und andere Menschen mit Essen verwöhnen – oder auch quälen. Manche Menschen liegen regelrecht im Krieg mit sich selbst; sie beschimpfen sich, wenn sie grössere Mengen Essen zu sich genommen haben als geplant. Sie sagen «Ich habe beim Essen gesündigt» und somit etwas Verwerfliches getan: Völlerei galt als Sünde. Einige nehmen nur ausgewählte Speisen zu sich, um ihrem Organismus keinerlei schädliche Stoffe zuzumuten. Weitere lassen im Gourmetrestaurant stattliche Beträge liegen, sie wollen als Feinschmecker gelten. Andere schauen beim Einkaufen der Lebensmittel ausschliesslich auf den Preis, Ernährungsqualität ist für sie von geringer Bedeutung.

Schwierige Beziehung zur Ernährung

Das Verhältnis zur Ernährung ist auch von biografischen Erfahrungen geprägt. Insbesondere die ältere Generation erfuhr, wie sie als Kinder Gemüsesorten essen mussten, die ihnen widerstanden. So gesehen bedeutet Ernährung keinen Genuss, sondern Machtausübung und Strafe. Andere erinnern sich ein Leben lang an den köstlichen Zwetschgenkuchen ihrer Grossmutter.

Einige konnten als Kinder beim Ernten von Gemüse, Beeren und Obst mithelfen oder einen Bauernhof besuchen; sie haben unmittelbar erlebt, wie Nahrungsmittel entstehen. Während frühere Generationen assen, was Garten und Feld gerade hergaben, was saisonal auf dem Markt erhältlich war und was im Vorratskeller lagerte, wird heute der Lebensmitteleinkauf zur Herausforderung: In den Grossverteilern ist die Auswahl kaum zu überblicken, man wähnt sich im Schlaraffenland. Was soll heute auf dem Mittagstisch stehen? Nasi Goreng, ein veganes Menü, eine Rohkost-Mahlzeit, eine Tiefkühlpizza, indisches Curry, Dinkel-Spaghetti, Sushi, Smoothie, ein Trennkostmenü? Die Liste liesse sich beliebig verlängern.

Viele Menschen tun sich mit der Orientierung beim Einkauf schwer. Medienberichte sind daran nicht unschuldig; mit reisserischen Schlagzeilen verunsichern sie Leser*innen und Konsument*innen. Die Stichworte sind etwa undeklariertes Pferdefleisch in der Lasagne, Gammelfleisch, Listerien, BSE, EHEC, gefälschte Bio-Produkte sowie Zusatzstoffe, die Hyperaktivität und andere Leiden auslösen können. Gleichzeitig schwärmen die Publikationen von exotischen Samen und weiterem sogenannten Superfood.

Gesunde Ernährung als Obsession

«Diese sehr widersprüchliche Flut an Informationen begünstigt, dass manche Menschen sehr viel Zeit und Aufmerksamkeit auf das Thema Essen richten.»
Adrian Zeller

Sie betreiben Nachforschungen im Internet, etwa über Konservierungs- und Farbstoffe. Die Wissenschaft beschäftigt sich mit einer neuen Art von Leiden: In der medizinischen Fachsprache heisst die Störung Orthorexia nervosa – nicht zu verwechseln mit der Anorexia nervosa, der Magersucht. Während Magersüchtige möglichst wenig essen, um einer Gewichtszunahme vorzubeugen, essen Orthorexia-Betroffene nur eine beschränkte Auswahl von Nahrungsmitteln, weil sie problematische Inhaltsstoffe vermuten. Sich gesund zu ernähren, ist grundsätzlich ein vernünftiges Bedürfnis; bei Orthorexia-Betroffenen kann sich dieses Verlangen zum alles beherrschenden Thema ausweiten.

«Am Anfang steht das vernünftige Bedürfnis, Gutes für seine Gesundheit zu tun oder Beschwerden durch eine Diät zum Verschwinden zu bringen. Nach und nach wird die Beschäftigung mit der Ernährung zur Obsession.»
Adrian Zeller

Lebensmittel werden nur noch nach Proteingehalt, Magnesiumwerten, Pestizidfreiheit und anderem mehr bewertet. Kleine Naschsünden sind undenkbar. Bei jedem Einkauf werden die Inhaltsangaben akribisch überprüft, überall lauern Gefahren für den Organismus. Das Essen mit Lust und Genuss verschwindet völlig.

Weil Erkrankte missionarischen Eifer entwickeln, können auch zwischenmenschliche Probleme entstehen: Betroffene lehnen Einladungen zu Geburtstags- und Familienfeiern ab, damit sie nicht mit Lebensmitteln konfrontiert werden, die in ihren Augen schädlich sind. Zudem gehen Verwandte und Freunde auf Distanz, weil man mit Orthorexia-Betroffenen fast nur noch über das Thema Ernährung sprechen kann. Solche Patient*innen benötigen oft eine fachtherapeutische Behandlung, um dem Thema Ernährung in ihrem Leben wieder einen normalen Stellenwert einzuräumen.

Wenn die Ernährung zum Problem wird

Kontrollsucht oder Kontrollverlust

Menschen, die von Magersucht betroffen sind, beschäftigen sich ebenfalls intensiv mit ihrer Ernährung. Für sie steht aber das Reduzieren der Kalorienaufnahme im Vordergrund.

«Betroffene fürchten sich panisch vor üppigen Körperformen an sich selber. Sie haben oft eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Erscheinungsbildes. Während sie für andere Menschen eine schlanke Figur haben, sehen sie sich im Spiegel als füllig.»
Adrian Zeller

Mit kleinen Portionen, kalorienarmen Lebensmitteln, intensivem Sport sowie Abführmitteln kämpfen sie gegen jegliche Gewichtszunahme.

Dabei können infolge Mangelversorgung mit Vitalstoffen funktionelle Störungen im Organismus auftreten, beispielsweise in der Ernährung der Knochen. Magersucht kann sich zur lebensgefährlichen Krankheit entwickeln. Wenig bekannt ist, dass auch immer mehr junge Männer betroffen sind. Wie die Diagnose «Magersucht» in ihrem Namen sagt, handelt es sich um eine Suchterkrankung; was bedeutet, dass die Sucht stärker ist als die erkrankte Person. Nur mit professioneller Hilfe schaffen es Patient*innen, zu einer ausreichenden und ausgewogenen Ernährung zurückzufinden.

Patient*innen einer weiteren Ernährungsstörung, der Ess-Brechsucht (Bulimia nervosa), verlieren die Kontrolle über ihre Ernährung. Sie essen oft im extremen Übermass, um sich anschliessend selbst zum Erbrechen zu bringen und mit entsprechenden Medikamenten die Ausscheidung zu fördern. Durch die sehr unausgewogene Ernährung kann es zu Störungen der Körperfunktionen kommen.

Ursachen liegen tiefer

Oft wird das zwanghafte Verhalten von Scham, Schuldgefühlen und Depressionen begleitet. Mit grosser Anstrengung bemühen sich Patient*innen, ihre Erkrankung gegen aussen zu verschleiern.

Allen Essstörungen gemein sind die psychischen Hintergründe, die an der Krankheitsentstehung beteiligt sind. Demnach ist eine psychologische oder psychiatrische Betreuung von Erkrankten sehr wichtig, um ihr schädliches Verhalten gegen sich selbst beenden zu können.