Muss eigentlich immer alles absolut perfekt sein, oder könnten wir bei der einen oder anderen Situation auch mit weniger zufrieden sein?

Was ist schon «perfekt»?

Gerade in dem Moment jetzt, in dem ich diesen Text schreibe, stellt sich mir die Frage nach der Perfektion: Ist dieser Text perfekt? Wie lange soll ich daran arbeiten, ihn verändern, verbessern und optimieren, bis er perfekt ist. Und dann, wenn ich das Gefühl habe, der Text sei perfekt, heisst das ja noch lange nicht, dass die Leserschaft diesen Text auch als perfekt einstuft.

Gibt es überhaupt absolut perfekte Texte? Ganz einfach sind diese Fragen nicht zu beantworten und ich weiss es von früheren Texten, dass die einen etwas wirklich ganz gut finden, während andere doch noch dies und jenes zu bemängeln hätten.

Frage der Verhältnismässigkeit

Um es aber gleich vorwegzunehmen: Es gibt Situationen, bei denen wir Perfektion erwarten. Zum Beispiel wenn wir uns die Augen oder den Blinddarm operieren lassen. Nur schon der kleinste Fehler könnte verheerende Auswirkungen haben. Doch wenn wir hinter dem Haus den Rasen mähen, müssen dann auch unbedingt alle 837 639 Gräser exakt 3,46 Zentimeter lang sein? Oder wenn wir unser Auto polieren, ist es auch kein Unglück, wenn unter dem linken Scheinwerfer noch ein zwei Millimeter grosses Staubkorn klebt …

Und noch etwas: Hätte ich den Anspruch, diesen vorliegenden Text absolut perfekt verfassen zu wollen, würde er möglicherweise gar nie veröffentlicht. Denn: Ich könnte monatelang daran feilen und schleifen; er könnte irgendwie ja immer noch besser werden. Zudem stellt sich dann auch die Frage, wann ein Text überhaupt perfekt ist. Wer kann das schon mit absoluter Sicherheit bestimmen?

Definition Perfektionismus

Psychologen beschäftigen sich schon seit Jahren mit dem Thema «Perfektionismus», trotzdem existiert keine einheitliche Definition. Einig ist man sich aber darin, dass Perfektionismus grundsätzlich zwei Dimensionen hat: das Streben nach Vollkommenheit und eine übertriebene Vermeidung von Fehlern.

«Perfektionismus beeinflusst somit unsere gesamte Person und äussert sich nicht zuletzt im Denken und in den Vorstellungen, wie etwas sein soll.»
Albin Rohrer

Perfekte Erwartungshaltung

Dieses Denken führt dann zu folgenden Haltungen: Ich muss immer alles hundertprozentig perfekt machen. Wenn ich etwas nicht schaffe, dann bin ich ein Versager. Ich muss kompetent sein, sonst lehnen andere mich ab. Andere dürfen keine Fehler machen, sonst sind sie Versager. Es ist unverzeihlich, wenn mir etwas misslingt. Nur wenn ich perfekt bin, verdiene ich Anerkennung und Liebe. Entweder mache ich etwas perfekt oder gar nicht.

Grosser Druck

Perfektionist*innen richten ihre Aufmerksamkeit oft auf Fehler und Schwächen, dies sowohl bei sich selbst und auch bei anderen. Fehler und Misserfolge nehmen perfektionistisch veranlagte Menschen zum Anlass, um sich selbst zu verurteilen. Sie sehen sich oft als Versager*in. Selbst wenn sie etwas fehlerlos erledigt haben, können sie sich nicht richtig freuen, man hätte es ja vielleicht noch besser machen können.

 

«Somit setzen sich Perfektionist*innen dauernd selbst unter Druck. Das hat logischerweise Konsequenzen: Permanenter Druck wirkt sich bekanntlich nicht nur negativ auf die Gefühle, sondern auch auf den Körper aus.»
Albin Rohrer

Die Folgen können unter Umständen vielfältig sein: Frustration, Resignation, Stress, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Schlafprobleme etc.

Aber – wie bereits erwähnt – ist das Streben nach Perfektion nicht immer schlecht. Es gibt viele Berufe, in denen perfektes Arbeiten unabdingbar ist: Ärzte, Zahnärzte, Ingenieure, Techniker – einige Tätigkeiten erfordern tatsächlich absolute Perfektion, um erfolgreich zu sein und keinen Schaden anzurichten. Wer möchte denn schon in ein Flugzeug steigen, das nicht perfekt gewartet wurde und nicht perfekt gesteuert wird?

Anerkennung ist wichtig

«Ich will immer perfekt sein, weil ich glaube, nur dann geliebt zu werden. Sobald ich den Eindruck habe, jemand könne etwas besser als ich, fühle ich mich bedroht und habe Angst, keine Anerkennung mehr zu erhalten. Ich bin süchtig nach dieser Anerkennung von aussen, weil ich sie mir selbst nicht geben kann.»
Perfektionistin, Anonym

Das sagt eine Frau, die sich als Perfektionistin bezeichnet und sich auch schon intensiv damit auseinandergesetzt hat.

Eine andere betroffene Person sagt dazu Folgendes:

«Mein Perfektionismus wird von der Angst vor Fehlern genährt. Er soll verhindern, mit der Angst in Kontakt zu kommen, nicht in Ordnung zu sein. Weil Fehler bedeuten, minderwertig zu sein. Durch meinen Perfektionismus will ich Fehlerlosigkeit erreichen, um so akzeptiert zu werden.»
Perfektionistin, Anonym

Mit diesen Aussagen wird klar, was die Ursachen von übertriebenem Perfektionismus sein können: ein geringes Selbstwertgefühl verbunden mit der Angst, nicht gut genug zu sein und abgelehnt zu werden.

Das kommt nicht von ungefähr: Wer in der Kindheit die Erfahrung gemacht hat, nur dann Zuwendung und Anerkennung zu erhalten, wenn bestimmte Erwartungen erfüllt wurden, der ist später stark auf die Anerkennung anderer angewiesen. In der Perfektion sieht man dann die Möglichkeit, diese fehlende Anerkennung zu erhalten und gleichzeitig Ablehnung zu vermeiden.

Perfektionist*in: Was nun?

Wer sich als Perfektionist*in erkennt und einen Ausweg sucht, darf durchaus hoffen. Ein Satz des spanischen Malers Salvador Dali könnte für den Anfang hilfreich sein:

«Habe keine Angst vor der Perfektion; denn Du wirst sie nie erreichen.»
Salvador Dali

Und etwas ist auch noch wichtig: Wer versucht, seinen Perfektionismus zu 100 Prozent zu eliminieren, steht auf verlorenem Posten. Das nämlich entspricht schon wieder perfektionistischem Verhalten und ist kein Ausweg.

Ein Vorbild können wir uns auch an der Natur nehmen: Nicht jeder Apfel, nicht jede Birne und auch nicht jeder Baum hat die perfekte Form. Und kein Mensch ist perfekt – obschon es vielleicht einige gibt, die das von sich behaupten. Trotzdem kann ein nicht perfekt geformter Apfel etwas Wunderbares und ein nicht perfekter Mensch sehr Liebenswürdiges sein. Unvollkommenheit ist kein Mangel und die Welt ist nie vollkommen und perfekt. Weder in der Politik, noch in der Gesellschaft, in der Bildung, in der Kunst, im Sport– alles ist stets im Wandel. «Errare humanum est» (irren ist menschlich…), sagte übrigens schon Cicero.

Perfekt, oder mindestens okay

Doch etwas sollten wir nicht vergessen: Eigentlich ist es doch absolut in Ordnung, etwas perfekt machen zu wollen und ein wenig ehrgeizig zu sein. Bei vielen Tätigkeiten kann das auch richtig Freude machen: zum Beispiel beim Musizieren, beim Malen, beim Kochen, beim Stricken oder Häkeln.

Wird dann etwas (fast) perfekt, ist das schön und gut. Wird es jedoch nicht perfekt, sollte das aber auch okay sein. Schwierig wird es nur dann, wenn wir unser Selbstwertgefühl und unsere Selbstachtung ausschliesslich von einer perfekten Leistung abhängig machen.

Unter diesem Aspekt beende ich jetzt auch diesen Text. Ob er perfekt verfasst ist? Ich jedenfalls finde ihn okay und was andere davon halten, weiss ich halt einfach nicht.