Schimpfen ist ineffizient, ein Stimmungskiller und untergräbt die Stimmung. Trotzdem schimpfen vier von fünf Eltern manchmal oder häufig mit ihrem Kind. Warum sie das tun – und was sie dagegen tun können.
Rafael ist guter Laune und zu Fuss auf dem Weg zur Arbeit. Eine Frau, die mit ihrem Hund spazieren geht, fährt ihn an: «Was fällt Ihnen ein, den Verkehr zu blockieren! Sind Sie noch bei Trost? Wozu ist denn die Unterführung da? Doch um sie zu benützen?» Rafael ist irritiert. Er ist sich keines Fehlers bewusst, zumal er den Fussgängerstreifen korrekt überquert hat. Er ist so perplex, dass er nichts erwidern kann – und über längere Zeit aus dem Gleichgewicht gerät. Dass ihn diese fremde Frau so respektlos behandelt hat, macht ihn zornig. Zudem ärgert er sich, dass ihr Verhalten seine Laune und Stimmung so stark beeinträchtigt.
Rafael fragt sich, warum ihn diese Begebenheit aus seiner inneren Ruhe bringt. Er wird sich bewusst: Dass mit ihm geschimpft wird, ist ihm bekannt. Er kennt das aus seiner Kindheit: Auch seine Mutter hat ihn gescholten. Wenn er die Teetasse umgekippt oder ein Glas fallengelassen hat, herrschte sie ihn an: «Schon wieder! Kannst du denn nicht aufpassen? Du hast zwei linke Hände!» Oder, sobald er sich an einem Gespräch beteiligen wollte, sagte seine Mutter: «Sei still, wenn die Erwachsenen reden. Das verstehst du sowieso nicht, lass uns in Ruhe!» Als er ihr zum Muttertag einen Blumenstrauss schenkte, keifte sie: «Wie kannst du es wagen, mir einen solch hässlichen Besen zu schenken. Du bist ein Heuchler!»
Rafael fühlt sich heute – als erwachsener Mann – in Situationen wie eingangs geschildert so klein wie damals als Bub.
Tempi passati? Leider nein. Neulich beobachtet: Eine Familie ist auf dem Weg an ein Konzert. Die Kleine, vier Jahre alt, fällt hin – die Strumpfhose ist dreckig. «Warum passt du nicht auf?!», bricht es aus der angespannten Mutter heraus. «Jetzt müssen wir wieder zurück und eine neue Strumpfhose anziehen, du bist so mühsam! Wegen dir sind wir jetzt noch mehr in Zeitnot!»
Schimpfen ist zwar kein Modell für angemessene Erziehung und gilt nicht als guter Ton – es kommt aber häufiger vor, als man denken würde oder will: Vier von fünf Eltern geben zu, mit ihren Kindern oft oder manchmal zu schimpfen. Und ein Viertel bekennt, ihr Kind regelmässig psychisch zu strafen. Dies geht aus einer vor rund vier Jahren publizierten Studie des Instituts für Familienforschung und -beratung hervor, bei der gut 1500 Eltern befragt worden sind.
Psychische Gewalt in der Erziehung ist weit verbreitet. «Dazu gehört, ein Kind abzuwerten, es despektierlich zu behandeln, schlechtzumachen, es verbal zu bedrohen», sagt Markus Wopmann, als Arzt seit über 30 Jahren im Kinderschutz tätig, in einem Interview.
Das sei genauso verletzend und grob wie Schläge, betont der Arzt: «Kinder können nicht damit umgehen und wissen nicht, weshalb das passiert.» Kränkung, Erniedrigung und Missachtung seien nicht nur schmerzhaft und verletzend, ergänzt Werner Bartens, der ein Buch über emotionale Gewalt geschrieben hat: «Sie können das Seelenheil massiv beschädigen und krank machen.» Besonders, wenn dies in der Kindheit erfolge.
Ihr Kind weinte, sie als Mutter fühlte sich schlecht, und am Ende wusste keiner mehr, worum es gegangen war. Da erkannte Nicola Schmidt: «Schimpfen ist ineffizient.» Nicola Schmidt ist Expertin für Erziehungsfragen und Buchautorin. In einem Interview sagt sie:
Kinder machten dann aus Angst mit. Sie würden zwar lernen, zu funktionieren. «Aber sie lernen nicht, was Empathie und Fürsorge bedeutet», sagt Nicola Schmidt. «Das nützt unserer Gesellschaft nichts, die Menschen benötigt, die kreative Lösungen finden, um gemeinsam etwas zu erreichen. Wenn wir Kinder ausschimpfen, gelingt uns das nicht.»
Schimpfen schade der Beziehung zwischen Eltern und Kindern. «Das fällt vielleicht nicht auf, wenn ein Kind drei oder fünf Jahre alt ist», erklärt Nicola Schmidt. «Doch wenn es 15 ist, merken wir: Es hört nicht zu und geht weg. Es flüchtet in die innere Emigration. Wir Eltern erreichen den Teenager dann nicht mehr.»
Also nie mehr schimpfen? Schön wärs! Auch Eltern haben schlechte Tage. Ein wichtiges Stichwort lautet: echt sein. Man darf sagen, wenn einen etwas stört. Doch auch bei schlechter Laune sollte es einem Erwachsenen möglich sein, zu erklären, warum ihn zum Beispiel die Unordnung im Wohnzimmer nervt – in sachlichem, respektvollem Ton. Genau dies ist die Knacknuss: Die meisten Eltern wissen das zwar und haben diesen Anspruch an sich – und explodieren dann doch, wenn es eine knifflige Situation mit ihrem Kind gibt.
Dies geschieht, weil die Eltern gestresst sind und das Gehirn im Modus einer Notsituation reagiert: Der präfrontale Kortex, wo der Verstand zu Hause ist, setzt aus, da es zu lange bis zur Reaktion dauern könnte. Damit hat der Affekt leichtes Spiel: Es ist dann, als hätten wir einen Tiger vor uns, kein Kind. Darum schimpfen wir los, als müssten wir uns gegen jemanden verteidigen.
Weil in unserer westlichen Gesellschaft die Eltern die Erziehung oft allein managen, gilt es, das Hirn auszutricksen – Verantwortung zu übernehmen.
Das bedeutet, wenn es brenzlig wird: zum Beispiel aus dem Raum gehen, den eigenen Körper wieder spüren und wahrnehmen. Einen Tee trinken, sich die Hände waschen, eine Treppe hochrennen. «Oder den Hampelmann machen», sagt Nicola Schmidt, «darüber können wir vielleicht wieder lachen.» Dies – oder spielen – ist vor allem dann eine Option, wenn sich eine Situation zu einem Machtkampf zuspitzt. «Was Kindern oft fehlt, sind Nähe und Bindung. Durch Spielen können wir diesen Kontakt wieder herstellen. Dies hat zur Folge, dass das Kind kooperiert.»
Apropos Hampelfrau, Hampelmann: Sind Eltern glaubwürdige und weise Anführer*innen, fällt ihnen kein Zacken aus der Krone, wenn sie auf diese Art aus dem Takt tanzen. Denn Herumalbern löst die Spannung, lockert alle Beteiligten: die Eltern ebenso wie die Kinder.
Nicola Schmidt, Erziehung ohne Schimpfen, Alltagsstrategien für eine artgerechte Erziehung. Gräfe & Unzer, 2019.