Wäre die Welt besser oder schlechter, wenn alle Menschen nach ihrem eigenen Sinn – also eigensinnig – leben würden? Und ginge es uns besser, wenn wir das täten?

Verachteter Eigensinn

Oft spricht man von «Tugenden». So zum Beispiel von der Zuverlässigkeit, der Treue, der Grosszügigkeit oder vom Gleichmut. Und im gleichen Atemzug werden dann auch die «Untugenden» aufgezählt: Disziplinlosigkeit, Egoismus, Sturheit oder eben auch der Eigensinn.

Grosses Ansehen geniesst er nicht gerade der Eigensinn. Und in der Gesellschaft hat man doch gerne Menschen, die sich so verhalten, wie es im Allgemeinen erwartet wird. Unzählige Sprichwörter und Volksweisheiten belegen es: «Der Eigensinn ist die Energie der Dummen», sagt man. Oder: «Eigensinn ist ein böser Ratgeber». Und auch nützen soll er nichts, wie folgender Spruch besagt:

«Beim Eigensinn ist kein Gewinn.»
Deutsches Sprichwort

Doch stimmt das wirklich? Haben Sprichwörter und Volksweisheiten immer recht? Ist ein Mensch, der eigensinnig handelt, wirklich eine Belastung für die Gesellschaft? Funktioniert die Welt nur dann richtig, wenn wir auf unsere Eigensinnigkeit (auf unsere eigenen Ideen) verzichten und uns zum Wohle der Allgemeinheit selbst verleugnen, uns dauernd unterordnen, uns knechten und knebeln lassen?

Originale und Kopien

«Alle Menschen werden als Originale geboren, die meisten von uns aber sterben als Kopien». Diese mittlerweile berühmte Aussage hat mich zur Frage geführt, inwieweit auch ich schon vom Original zur Kopie geworden bin. Das Thema beschäftigt mich nämlich schon seit meiner Kindheit. Von einem Lehrer musste ich mir damals sagen lassen, ich sei «eigensinnig und deshalb schwierig». Warum er das sagte? Ich habe mir ja nur erlaubt, den Buchstaben «r» etwas anders zu schreiben, als es die Schulschrift damals vorschrieb. Ist das so schlimm? Bricht unser Schulsystem deswegen zusammen? Nimmt die Welt Schaden daran, wenn ein 12-jähriger Junge den Buchstaben «r» nicht ordnungsgemäss schreibt, obschon er doch als «r» klar erkennbar ist?

Stets den eigenen Weg gehen

Es war ein harter Kampf für mich und wohl auch für den Lehrer. Trotz mehrfacher Schelte habe ich an meinem «r» festgehalten, bis sich die Schrift im Erwachsenenalter weiterentwickelte und sich dieser «Wildwuchs» von selbst verflüchtigt hat. Ich blieb eigensinnig. Nicht, dass ich das bewusst gewollt hätte. Auch nicht aus Trotz gegenüber dem Lehrer oder gegenüber der Welt. Und schon gar nicht deshalb, weil ich Lust hatte, überall anzuecken. Ich war es einfach. Ich konnte gar nicht anders. Und vielleicht bin ich es heute noch. So richtig weiss ich das nicht, obschon es Menschen gibt, welche behaupten, dass bei mir vieles darauf hindeute, dass ich über ein rechtes Mass an Eigensinnigkeit verfüge. Soll ich mich jetzt dafür selber loben oder sollte ich mich deswegen schämen …?

Tugend oder Untugend

Während die Gesellschaft den Eigensinn in der Regel als «Untugend» bezeichnet, sah dies Hermann Hesse etwas anders: Er schrieb dazu Folgendes:

«Es gibt eine Tugend, die liebe ich sehr, eine einzige. Sie heisst Eigensinn. Tugend ist Gehorsam. Die Frage ist nur, wem man gehorcht. Auch der Eigensinn ist Gehorsam. Aber alle anderen so sehr beliebten und gelobten Tugenden sind Gehorsam gegen Gesetze, welche von Menschen gegeben sind. Einzig der Eigensinn ist es, der nach diesen Gesetzen nicht fragt. Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst».
Hermann Hesse
Schriftsteller (1877 - 1962)

Wäre Hesse ein so grosser Schriftsteller geworden, wenn er nicht in hohem Masse eigensinnig gewesen wäre? Hätte er immer nur das gemacht, was man von ihm erwartet hätte, hätte es durchaus sein können, dass er irgendwo in einem kleinen, muffigen Büro als Gemeindeschreiber versauert wäre.

Gar viele Menschen behaupten, in der Welt ginge es drunter und drüber, wenn alle nach ihrem eigenen Sinn lebten. Deshalb sei es notwendig, alles zu regeln. Ordnung muss sein. Entsprechend haben wir auch Gesetze, Regeln, Verordnungen. Tausende. Und: Trotzdem geht die Welt drunter und drüber. Die Frage sei erlaubt, ob die Welt besser oder schlechter aussähe, wenn alle Menschen nach ihrem eigenen Sinn – also eigensinnig – leben würden. Wie wäre es, wenn wir mehr Originale und weniger Kopien hätten? Wäre das Leben dann nicht reicher, interessanter und intensiver? Gäbe es dann nicht noch mehr Menschen, die so tolle Sachen in die Welt setzen wie Hermann Hesse …?

Was liegt in uns?

Je stärker die gesellschaftlichen Normen und Zwänge sind, desto stärker wird der Wunsch, nach dem eigenen Sinn zu leben und entsprechend eigene Wege zu gehen. Nicht wenige sprechen es gelegentlich offen aus, dass sie am liebsten alles stehen lassen würden, um dahin zu gehen, wohin das Herz sie trägt. Auf einen Bauernhof im Tessin, zu Ureinwohnern im Amazonas, auf eine Ranch in Texas oder auf Tahiti. Nur wenige aber haben den Mut dazu. Sie sind unsicher. Die Auseinandersetzung mit der Unsicherheit jedoch wäre die erste Hürde. Das hat Erich Fromm schon formuliert: «Die Aufgabe, die wir uns stellen sollten, ist nicht, uns sicher zu fühlen, sondern in der Lage zu sein, die Unsicherheit zu tolerieren».

«Wer den Mut hat, eigene Wege zu gehen und dazu die Kraft, die dazugehörende Unsicherheit auszuhalten, der kann möglicherweise Wundersames erleben.»
Albin Rohrer

Wunderschön hat das Henry David Thoreau formuliert: «Was vor uns liegt und was hinter uns liegt, sind Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was in uns liegt. Und wenn wir das, was in uns liegt, nach aussen in die Welt tragen, geschehen Wunder». Das müssen übrigens nicht zwingend Wunder sein, welche den gesamten Kosmos verzücken. Es genügt, wenn es kleine, unscheinbare, aber persönlich ganz intensive Empfindungen sind. Etwa die Empfindung, ein «r» so zu schreiben, dass es dem eigenen Sinn statt der Vorstellung des Lehrers entspricht. Egoistisch sei es, nach dem eigenen Sinn zu leben und zu handeln. Doch das stimmt nicht. Egoisten suchen immer nur ihren ganz persönlichen Vorteil (meist in äusseren, materiellen Dingen). Eigensinnige jedoch leben einfach nach ihrem eigenen Sinn. Das ist für andere zwar oft sehr schwer nachvollziehbar, was aber nicht heisst, dass es auf Kosten anderer gehen muss. Was schadet es schon der Welt, wenn jemand seinen Job bei einer Bank kündigt, um in den Abruzzen Esel zu züchten oder in Sizilien eine Olivenplantage zu bewirtschaften?

 

Stets den eigenen Weg gehen

Verlust oder Gewinn?

Vieles probieren wir nicht aus, weil wir es uns nicht zumuten. Wir vergleichen uns mit anderen, welche aus unserer Sicht «besser» oder «mutiger» sind. Noch bevor die Begeisterung, den eigenen Weg zu gehen, richtig aufblühen und ausbrechen kann, würgen wir alles ab. Auch aus Angst, was andere wohl denken und sagen würden. Dadurch berauben wir uns unendlich grosser Möglichkeiten und bestrafen uns letztlich selbst.

Eigensinnig zu sein, nach dem eigenen Sinn zu leben und den eigenen Weg zu gehen bedeutet, sich ganz auf sich selbst einzulassen. Auf sein eigenes Wesen. Das heisst auch, sich selbst die Frage zu stellen, was für einen wesentlich ist. Und wesentlich ist ja bekanntlich alles, was dem eigenen Wesen entspricht. Das kann durchaus auch eine schmerzliche Erfahrung mit sich bringen. Etwa dann, wenn wir an unsere eigenen Grenzen stossen. Wer den eigenen Weg gehen will, der lässt sich auf ein Risiko ein. Das Leben plätschert dann plötzlich nicht mehr lauwarm dahin. Es wird ab und zu ziemlich heiss oder unangenehm kalt. Wer den eigenen Weg geht, macht vielleicht Fehler, wird von Zweifeln geplagt und fällt ab und zu auf die Nase. Doch Fehler machen wir ja auch, wenn wir nicht den eigenen Weg gehen, wenn wir nichts riskieren. Auch von Zweifeln werden wir geplagt, wenn wir uns nicht auf den eigenen Sinn verlassen. Und auf die Nase fallen wir ja eh hin und wieder.

Also: Was kann ich verlieren, wenn ich eigensinnig bin und bleibe? Nichts. Was kann ich gewinnen? Viel. Sehr viel sogar. Oder wie es Hermann Hesse formulierte: «Für den Eigensinnigen gibt es nichts als das stille, unweigerliche Gesetz in der eigenen Brust, dem zu folgen, was dem Menschen des bequemen Herkommens so unendlich schwerfällt, das dem Eigensinnigen aber Schicksal und Gottheit zugleich bedeuten».