Ebenfalls mit dem Kaffeegenuss kann man es übertreiben, wenn das Mass verloren wurde.

Man kann irgendeine Sache treiben, man kann sie aber auch übertreiben. Das Ringen um ein gesundes Mass, die Mässigung, ist ein permanentes, anstrengendes Unterfangen.

Vom Über-treiben

«Treiben» ist ein schöner Begriff. Wer treibt, bringt etwas in Bewegung, er kommt vorwärts. Etwas entsteht oder entwickelt sich, etwas lebt. Doch da gibt es noch ein anderes schönes Wort: «übertreiben». Und das kann dann tatsächlich manchmal viel mehr schaden als nützen.

Leon bewegt sich kaum, Sport findet für ihn nur im Fernsehen statt. Dafür rennt Urs täglich mindestens zehn Kilometer. Dazu kommen noch seine Besuche im Fitnesscenter und ausgedehnte Touren mit dem Bike. Auch jeden Tag und bei jedem Wetter. Philippe arbeitet sehr viel. Nicht nur 42 Stunden in der Woche, sondern 50, 60 Stunden oder manchmal sogar mehr. Und er beschwichtigt dies immer damit, dass er ja sehr gerne arbeite. Peter raucht, mindestens 40 Zigaretten täglich. Und das tut er schon seit Jahren. Anna isst unglaublich gerne: Schokolade, Kuchen, Fleisch, quasi alles, was sie zwischen die Zähne kriegt. Helene isst nur sehr wenig, fast nur Früchte und Gemüse, sie ist praktisch permanent am Fasten. Mirjam redet sehr gerne. Und auch sehr viel! Vom Morgen bis am Abend, fast ununterbrochen hat sie etwas zu sagen. Und nicht alles, was sie erzählt, ist für andere wirklich wichtig oder interessant. Marianne verweigert jeglichen Tropfen Alkohol, während Anton literweise Bier und Wein konsumiert. Kevin sitzt stundenlang vor seinem Computer, surft im Internet oder hängt fast pausenlos an seinem Smartphone, auch dann, wenn es eigentlich gar nicht notwendig wäre.

Wenn das Mass verloren ging

Die Gründe, weshalb sich jemand so verhält, sind von Fall zu Fall unterschiedlich. Gemeinsam aber haben all diese Menschen trotzdem etwas: Sie haben das Mass verloren, sie übertreiben.

Das Thema ist übrigens gar nicht neu, schon die deutsche Benediktinerin und Universalgelehrte Hildegard von Bingen beschrieb im frühen Mittelalter auf eindrückliche Weise 35 Probleme, mit denen ein Mensch im Verlauf seines Lebens konfrontiert werden kann. Zu den Beobachtungen der Dichterin und Komponistin gehörten unter anderem die Bequemlichkeit, der Geiz, der Neid, der Zorn, die Streitsucht, die Vergnügungssucht und eben auch die Übertreibung. So schreibt Hildegard von Bingen dazu Folgendes:

«Die Seele liebt in allen Dingen das rechte Mass. Das gilt für das Essen, das Trinken, das Schlafen und Wachen und auch für das Ruhen und für das Arbeiten.»
Hildegard von Bingen
deutsche Benediktinerin (1098 - 1179)

Für die Benediktinerin ist die «discretio», also «das rechte Mass», gar die wichtigste von allen Tugenden.

Mässigung als permanente Prüfung

Das Ringen um ein gesundes Mass ist ein permanentes, anstrengendes Unterfangen. Bekanntlich leben wir in ständiger Spannung. Wir sind stets Polaritäten ausgesetzt (zu viel oder zu wenig). Das zehrt ständig an uns und die Gefahr, die Balance zu verlieren, ist immer wieder gross.

Es ist nicht ganz einfach, mässig zu essen, wenn wir richtig Hunger haben. Es ist auch nicht so einfach, massvoll zu arbeiten, wenn wir für ein sehr interessantes und herausforderndes Projekt die Verantwortung tragen. Ganz schwierig ist es auch, dem Druck von aussen Stand halten zu können. Immer wieder will jemand etwas von uns: der Arbeitgeber, die Kinder, der Partner, die Nachbarin, die Gesellschaft überhaupt.

Überdies suggeriert uns Werbung, dass wir jederzeit alles haben oder tun können, was wir wollen. Ob gekauft, gemietet oder geleast: Hauptsache, wir konsumieren. Dazu kommt noch die permanente Selbstdarstellung: Schön, gesund, reich und erfolgreich sollen wir auch noch sein. Doch nicht nur das: Druck kommt auch von innen. Wir sind auch inneren Trieben stetig ausgesetzt. So etwa auch dem Sexualtrieb. Auch dort – oder gerade dort – ist das Finden des richtigen Masses nicht immer einfach.

«Masshalten ist fast schon eine Lebensaufgabe. Sie betrifft Junge und Alte, Männer und Frauen, und einfach alle Menschen in allen Lebenslagen.»
Albin Rohrer

Die Tugend der Mässigung

Masslosigkeit ist übrigens auch in der griechischen Mythologie ein Thema: Die Göttin «Nemesis» steht für das rechte Mass und gilt als Hüterin der göttlichen Ordnung. In der Astrologie symbolisiert die Venus die Harmonie und die Ausgeglichenheit.

Das rechte Mass spielt ebenfalls in der bildenden Kunst eine Rolle. Dabei spricht man vom «Goldenen Schnitt», ein Proportionsschema, welches das Auge intuitiv als stimmig erfasst. Ferner gibt es in der Musik die Proportionenlehre und die Poesie kennt das so genannte «Versmass». Masse kommen auch in der Physik vor und sowieso überall im Alltag: Höhen, Tiefen, Distanzen, Zeiten, Gewichte, alles lässt sich messen und entsprechend einordnen.

«Mässigung, Ausgewogenheit, Selbstkontrolle; die Kardinaltugend 'temperantia' stand für diese drei Begriffe.»
Albin Rohrer

Mit Mässigkeit ist aber nicht Mittelmass, Langeweile oder Harmlosigkeit gemeint. Der Begriff «Mässigungt» meint schon eher eine gewisse Selbstbeherrschung, die uns helfen soll, den Weg zum seelischen Gleichgewicht zu finden.

Letztlich geht es nämlich darum, für alles, was wir tun, das rechte Mass zu finden. Wie viel Sport ist gesund, wann ist es zu viel und schadet dem Körper? Ein Glas Wein kann durchaus Medizin sein, doch drei Flaschen täglich sind dann wohl zu viel. Auch Arbeit kann die Seele erfreuen, doch müssen es 50 oder 60 Stunden in der Woche sein? Egal, welches Thema wir betrachten: Das Mass spielt immer eine Rolle. Und letztlich kann jede und jeder nur für sich selbst entscheiden, wann es genug beziehungsweise zu viel sein könnte.

Mit Mässigung zur Harmonie

Meistens spüren wir es selbst, wenn wir wieder einmal übertrieben haben. Der Magen brennt, wenn wir zu viel gegessen haben, der Kopf brummt, wenn wir zu viel getrunken haben, der Rücken ist verspannt, wenn wir zu viel gearbeitet und zu wenig geschlafen haben. Oder der Atem geht schwer, wenn wir zu viel geraucht haben.

Was aber heisst Mass halten? Kann das überhaupt definiert werden?

«Unter Mässigkeit könnte man auch Harmonie, Ausgeglichenheit oder Gleichgewicht verstehen. Es geht grundsätzlich ja immer darum, in der Mitte zu sein. Nicht zu viel und auch nicht zu wenig.»
Albin Rohrer

Im Gleichgewicht zu sein könnte bedeuten, für eine harmonische Lebensatmosphäre und für einen gesunden Lebensrhythmus zu sorgen, damit wir ruhig sowie gelöst bleiben und uns selbst weder überfordert noch unterfordert fühlen. Dieser gelöste Zustand hat aber nichts mit Faulheit, Interesselosigkeit, Schwäche oder mit Nachlässigkeit zu tun. Ganz im Gegenteil: Er ist eine kraftvolle Ruhe, aus der heraus zielgerichtet und wirkungsvoll gehandelt werden kann. Mässigkeit könnte auch als harmonischer Einklang von Körper, Seele und Geist verstanden werden.

Grenzen erkennen und einhalten

«Welches Unglück, seinem Körper unterworfen zu sein! Welches Glück, ihn zu geniessen und zu beherrschen.» Das sagte der griechische Philosoph Aristoteles. Alles ist also letztlich eine Frage des Masses: ob beim Essen, beim Trinken, ob beim Arbeiten, beim Sport oder im Internet. 

«Die Mässigkeit will, dass wir unsere Grenzen erkennen und sie auch respektieren.»
Albin Rohrer

Also sollten wir nichts übertreiben. Um die eigenen Grenzen wirklich zu erkennen, müssen wir sie allerdings ab und zu überschreiten. Allerdings sollten wir dann daraus die notwendigen Konsequenzen ziehen können.