Wie baut man für Menschen, deren Hör- und Sehvermögen stark eingeschränkt sind – oder gänzlich fehlen? Mit der Planung von zwei Neubauten hat die «Tanne», die Schweizerische Stiftung für Taubblinde in Langnau am Albis, architektonisches Neuland betreten. Ein Gespräch mit Mirko Baur, dem Gesamtleiter der Stiftung, über ein Bauprojekt der besonderen Art.

Herr Baur, zunächst einmal die Frage: Wie kommuniziert man überhaupt mit Menschen, die weder sehen noch hören können?

Es gibt viele verschiedene Kommunikationsformen. Die doppelte Sinnesbeeinträchtigung ist bei jedem Menschen anders. Entsprechend muss man auch bei der Kommunikation an unterschiedlichen Stellen ansetzen und bei Bedarf Mischformen der Sprachen entwickeln. Grundsätzlich macht es dabei einen grossen Unterschied, ob Menschen schon von Geburt an taubblind sind, oder ob sie es erst im Laufe ihres Lebens wurden. Bei einer angebore­nen Taubblindheit kennen die Betroffenen noch keine Laut­- und keine Schriftsprache. Das macht zum Beispiel das sogenannte «Lormen» äusserst schwierig: Hierbei wird in die Handfläche geschrieben, und zwar über Druckpunkte, die jeweils bestimmten Buchstaben entsprechen. Auch die bekann­te Brailleschrift, bei der Buchstaben über Punkte erfühlt werden, setzt ein Verständnis für das Alphabet voraus.

Welche Kommunikationsmöglichkeiten gibt es dann für jemanden, der schon von Geburt an taubblind ist?

Es gibt beispielsweise taktile Gebärden: Die/der Taubblinde legt ihre/seine Hand auf die der/des Gebärdenden und kann so die Be­wegungen ablesen. Damit beginnt es aber nicht: Zunächst muss es gelingen, Gegen­stände, Gefühle oder Erlebnisse mit indi­viduellen Ausdrucksformen wie Gesten zu verbinden. Generell hängt die Kommunika­tionsform jeweils stark von den persönlichen Fähigkeiten der betroffenen Person ab.

Um sich verständigen zu können, müssen also die taubblinde Person und ihr Gegenüber erst zusammen eine eigene Sprache entwickeln?

Genau, für beide Seiten ist das eine Reise in ein neues Land. Jede*r Klient*in der Tanne hat hierfür ein festes Förderteam, das aus mehreren Fachpersonen aus Bereichen wie der Physiotherapie, dem Lehramt und der Logopädie besteht. Sie alle müssen dieselbe individuelle Sprache lernen.

Nicht minder schwierig erscheint die Aufgabe, für Taubblinde eine architektonische Sprache zu kreieren, die Orientierung schafft. Worin lagen bei diesem Bauprojekt die Herausforderungen?

Es gibt zwar durchaus Normen und Referenz­objekte, wenn es um Gebäude für blinde oder für gehörlose Menschen geht. Es gibt aber keinerlei Referenzwerte für Gebäude, die für Menschen mit kombinierter Seh­- und Hör­beeinträchtigung gebaut werden oder für Menschen mit einer anderen Mehrfachbe­hinderung.

«Bei Taubblindheit ist der Tastsinn die wichtigste Orientierungshilfe. Dafür gibt es bislang jedoch keine baulichen Vorgaben.»
Mirko Baur
Gesamtleiter der Schweizeri­schen Stiftung für Taubblinde

Zusammen mit dem Basler Architekturbüro Scheibler & Villard mussten wir quasi ein eige­nes Architekturkonzept entwickeln, mit dem man sich über den Tast­, aber auch über den Geruchssinn im Gebäude zurechtfinden kann. Dabei haben wir uns primär auf unsere bis­herigen Erfahrungswerte mit Betroffenen ge­stützt.

Architektur für Taubblinde

Wie werden die beiden Gebäude, die zur bestehenden Anlage der Tanne ergänzt wurden, genutzt?

Bei dem einen Gebäude handelt es sich um ein Wohnhaus mit inklusiver Kindertagesstätte und einer internen Wäscherei, beim anderen um ein Schul-­ und Betriebsgebäude mit The­rapieräumen und öffentlichem Café.

Die Gebäude taktil erfahrbar zu machen, war ein wesentlicher Aspekt beim Entwurf. Wie sieht das haptische Konzept aus?

Im Gebäude wurden verschiedene Materialien eingesetzt. Der Gebäudekern, in dem sich das Treppenhaus, die Liftanlage und die Sanitärräume befinden, ist in Beton gefertigt. Die Wän­de fühlen sich entsprechend kalt und hart an. Um den Gebäudekern herum führt auf jedem Geschoss ein Erschliessungsgang, von dem jeweils Zimmer abgehen, Richtung Fassaden­seite. Dort kam Holz zum Einsatz, das sich warm und weich anfühlt – und sich zudem auch akustisch vom Betonbereich unterscheidet: Hier ist der Klang sehr trocken, es hallt also nur sehr wenig. Für Personen, die über ein rest­liches Hörvermögen verfügen, ist es deshalb einfacher, Geräusche oder Worte zu verste­hen.

Und woran lässt sich erkennen, auf welchem Stockwerk man sich befindet?

«Entlang des Betonkerns ist eine Art Fries mit einem Muster eingearbeitet, das direkt in den Beton gegossen wurde.»
Mirko Baur
Gesamtleiter der Schweizeri­schen Stiftung für Taubblinde

Das Muster variiert auf jedem Stockwerk und verläuft entweder horizontal, vertikal oder diagonal. Das Muster findet sich auch beim Fliesenspiegel in den Sanitärräumen auf dem jeweiligen Stockwerk wieder.

Gibt es noch weitere Orientierungshilfen, die ertastbar sind?

Am Betonkern entlang führt ein Handlauf. Ein­ritzungen zeigen an, in welcher Richtung sich der Haupteingang befindet. Ausserdem sind «Dellen» spürbar, die signalisieren, dass auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs ein Zimmer abgeht.
Unterhalb der Delle hängt zudem ein Objekt, das verrät, um was für ein Zimmer es sich da­bei handelt: Ein Kaffeelöffel steht symbolisch für das Café, ein kleiner Trommelschläger für das Musikzimmer, und ein kleines Kissen mit weichem Plastikbezug für den sogenannten Snoezelen­-Raum. Das ist ein Wohlfühl­ und Entspannungsraum mit Lichteffekten, Bälle­bad, Hängematte und einem Wasserbett, bei dem Lautsprecher das Wasser zum Schwin­gen bringen.

Auch die Klassenzimmer lassen sich anhand von fühlbaren Objekten voneinander unter­scheiden: Jedes Klassenzimmer wird durch ein Bezugsobjekt zur entsprechenden Klassen­lehrperson angezeigt. Alle Lehrer*innen haben somit auch einen persönlichen Gebärden­namen. Das entsprechende Objekt gibt es übrigens gleich in mehrfacher Ausführung: Zum einen trägt die Lehrperson es als Erken­nungsmerkmal am Handgelenk, zum anderen wird es beim Kommunizieren eingesetzt, da­mit auch bei Abwesenheit über die Person ge­sprochen werden kann. Darüber hinaus hängt es an der taktil informativen Stockwerküber­sicht am Haupteingang. Daran sieht man, ob die Person im Haus ist.

Auch Gerüche spielen eine Rolle bei diesem Gebäudeentwurf. In welchen Bereichen kommt dies zum Tragen?

Beim Eingang des Schulgebäudes befindet sich das öffentliche Café. Wenn man reinkommt, riecht es nach Kaffee oder Mittagessen. Im Wohngebäude ist eine Wäscherei unterge­bracht, dort riecht es entsprechend anders.

«So konnten wir zwischen den Gebäuden einen schönen Geruchskontrast kreieren, der eben­falls wesentlich zur Orientierung beiträgt.»
Mirko Baur
Gesamtleiter der Schweizeri­schen Stiftung für Taubblinde

Auch im Treppenhaus, in den Sanitärräumen oder im Flur kann man olfaktorisch erkennen, wo man ist. Denn dort riecht es nach Beton. In allen anderen Räumen – darunter sämtliche Klassenzimmer und Therapieräume – duftet es hingegen nach Holz.

Die beiden Gebäude sind nun seit drei Jahren in Betrieb. Wie fällt Ihr Resümee aus?

Unsere Klientinnen und Klienten haben sich in den neuen Gebäuden der Tanne sofort zu­ rechtgefunden und wohlgefühlt. Das hat uns gezeigt, dass wir ihren Bedarf gut verstanden und architektonisch richtig abgebildet haben.

Tanne – Schweizerische Stiftung für Taubblinde

Gegründet wurde die Stiftung 1970 in Zü­rich. Damals entstand ein erstes Sonder­schulheim mit Wohnangebot für vier Kinder. Daraus entwickelte sich schnell eine In­stitution für Taubblinde jeglichen Alters. Die Menschen, die die Tanne besuchen, dort leben oder arbeiten, sind unterschied­lich stark beeinträchtigt und haben mehr oder weniger stark ausgeprägte Seh-­ und Höreinschränkungen oder andere Formen der Wahrnehmungsbeeinträchtigung. Oft kommen weitere körperliche oder kognitive Beeinträchtigungen hinzu.

Im Jahr 2019 hat das Taubblindenzentrum Tanne in Langnau am Albis zwei neue Ge­bäude fertiggestellt: ein dreigeschossiges Wohnhaus mit inklusiver Kindertages­ stätte sowie ein dreigeschossiges Schul-­ und Betriebsgebäude mit Therapieräumen und öffentlichem Café. Mehr Informatio­nen finden Sie unter tanne.ch