In Familien wird Solidarität grossgeschrieben. Doch Familienmitglieder sind einander nicht immer wohlgesonnen, gelegentlich schaden sie sich auf heimtückische Weise.

Sabotage in der Familie

Der 16-jährige Jeremy Bosshart (alle Namen geändert) lebt bei seiner Mutter. Von ihr lässt sich der Schüler im 10. Schuljahr nichts mehr sagen. Er ist respektlos, hält sich kaum an Regeln und zeigt ein schmarotzerhaftes Verhalten. Dies hat seinen Grund. Vor acht Jahren liess sich Mutter Angela Witkowsky vom Vater ihres Sohnes scheiden. Ihr Ex-Mann Remo Bosshart trägt ihr dies bis heute nach. Sein Racheinstrument ist der gemeinsame Sohn. Gezielt durchkreuzt er die Erziehungsbemühungen der Mutter und stachelt Jeremy gegen sie auf. Obwohl sich die Eltern von Jeremy scheiden liessen, sind sie in gewisser Weise eine Familie geblieben.

Quälgeister in der Familie

Untrennbar verbunden

Familien bleiben auch Familien, wenn sie nicht mehr gemeinsam in den gleichen Räumen leben. Für Sandra Konrad, sie ist Diplom-Psychologin in Hamburg und arbeitet als Therapeutin unter anderem mit Paaren und Familien, haben alle Menschen Eltern und Vorfahren und damit in irgendeiner Form eine Familie, mit der sie leben müssen:

««Ein Umtausch ist unmöglich, und selbst wenn wir ans andere Ende der Welt ziehen – die Familie kann man nicht hinter sich lassen.»
Sandra Konrad

Dies schrieb Sandra Konrad in ihrem Sachbuch «Das bleibt in der Familie – Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten» (2014, Piper Verlag). Wie Konrad im Buch weiter folgert, werde man durch die Familie geprägt und sei durch Liebe und durch Loyalität an sie gebunden «über Jahrzehnte, Kontinente, Generationen, sogar über Kontaktabbrüche und den Tod hinweg».

Hochburg der Gefühle

Für die einen Menschen ist die Familie ein beglückender Ort der Solidarität und der Geborgenheit, für andere ein einengendes Korsett oder eine Konfliktzone.

«Eine typische Familie gibt es kaum, die Unterschiede sind gross. Dennoch haben sie Gemeinsamkeiten: Gefühle spielen eine grosse Rolle, die Palette reicht von herzlicher Verbundenheit bis zu tiefer Abneigung.»
Adrian Zeller

Wenn es beispielsweise um die Verteilung eines Erbes geht, verkehren manche Familienmitglieder im Extremfall nur noch über Anwälte miteinander.

Im positiven Fall kümmern sich Angehörige um erkrankte Familienmitglieder. Sie fühlen eine moralische Verpflichtung, sich für Geschwister oder Eltern in schwierigen Situationen zu engagieren.

Allerdings: Demente Eltern sowie drogenabhängige Geschwister können Angehörige an ihre Belastungsgrenzen bringen. Hier ist es wichtig, als unterstützende Person gut für sich zu sorgen und rechtzeitig professionelle Unterstützung zu suchen.

Es bleibt in der Familie

Eine zweite Ebene haben nahezu alle Familien gemeinsam: ein ausgeprägtes Zusammen­gehörigkeits­gefühl gegen aussen. Familienmitglieder können sich immer wieder mit Vorwürfen eindecken, sie zeigen sich jedoch meistens gegen Kritik von aussen solidarisch. Von der grossen loyalen Verbundenheit in Familien schreibt ebenfalls Sandra Konrad; für sie werde die Familie als erweiterter Teil der eigenen Person empfunden. Über das Innenleben einer Familie dringen meistens höchstens bruchstückhafte Informationen nach aussen.

Dies kann sich vor- oder nachteilig auswirken: In der Regel müssen Familienmitglieder nicht fürchten, dass Aussenstehende ihre privaten Geheimnisse erfahren; Familie bietet Schutz der Privatsphäre. Doch manchmal ist es vorteilhafter, wenn Personen ausserhalb der Familie wichtige Informationen erhalten. Zum Beispiel dann, wenn die Familie finanziell kaum über die Runden kommt, weil der Vater spielsüchtig ist. Oder dann, wenn die Kinder immer wieder zu spät zur Schule kommen, weil die alkoholkranke Mutter sie nicht rechtzeitig geweckt hat. In so einem Fall könnte das Leiden von Familienmitgliedern durch fachgerechte Hilfe verringert werden.

Zwischen Zuneigung und Verletzung

In der Werbung sieht man stets gut gelaunte Kinder und Eltern in hübscher Umgebung. Zwar wünschen sich viele Menschen ein harmonisches Familienleben, Wunsch und Wirklichkeit lassen sich aber nicht immer in Einklang bringen. Das Zusammenleben auf beschränktem Raum ist oft im dynamischen Gleichgewicht, leicht wird diese Balance gestört. «Ist das ein Verhör?!», fragen beispielsweise manche Jugendliche genervt, wenn die Eltern Auskunft über die Freizeitaktivitäten oder über ihre Freunde haben wollen. Anteilnahme kann sehr leicht als Bevormundung und als Überwachung empfunden werden.

Weil Beziehungen in Familien mit vielen Gefühlen verbunden sind, können leicht Tränen der Freude, aber auch Tränen der Wut und der Enttäuschung fliessen. In einer Studie gaben 4,4 Prozent der Eltern in der Schweiz an, regelmässig körperliche Gewalt gegen ihre Kinder anzuwenden.

«Zuneigung und Verletzung liegen in Familien dicht beieinander.»
Adrian Zeller
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In Familien müssen sehr unterschiedliche Bedürfnisse in Einklang gebracht werden. Dies führt fast zwangsläufig zu Meinungs­verschiedenheiten. Themen sind etwa: wer wie lange das Badezimmer benutzen darf oder wohin man in die Ferien fährt. Für Experten sind Familien unter günstigen Umständen Übungsfelder für Fähigkeiten, die allgemein für eine erfolgreiche Lebensbewältigung ausschlaggebend sind. Vor allem Kinder trainieren ihr Durchsetzungs­vermögen, lernen zu argumentieren, erfolgreich Kompromisse auszuhandeln, einander zuzuhören und sich nach einem Konflikt wieder zu versöhnen.

Intrigen in der Familie

Familiäre Verbundenheit ist keine Garantie für einen fairen Umgang untereinander.

«Manche Familienmitglieder versuchen, ihre Ziele mit verdeckten Strategien durchzusetzen. Damit sind etwa Intrigen gemeint, bei denen hinter dem Rücken einer Person schlecht über diese geredet wird, um sie in ihrem Ansehen herabzusetzen.»
Adrian Zeller

Selbst kleine Mädchen und Buben benutzen gelegentlich raffinierte Ränkespiele. Um mehr Zuwendung von den Eltern zu erhalten, verpetzen sie Geschwister. Unter Fachleuten gilt dies als Beschädigen oder Zerstören von zwischenmenschlichen Beziehungen.

Erst nach Monaten erfuhr Angela Koller (Name geändert), dass ihre Schwester immer wieder über sie sagte, sie sei eine schlechte Mutter, weil ihr ihre Karriere wichtiger sei als ihre Kinder. Rivalitäten, Neid und Eifersucht sind die Hauptmotive für derartige Verhaltensweisen.

Die Urheber sind oft schwer zur Verantwortung zu ziehen, weil meistens Belege für ihr schädigendes Verhalten fehlen. Gleichwohl kann es helfen, Mitwirkende von Intrigen auf ihre negativen Kommentare anzusprechen. Wahrscheinlich werden sie diese abstreiten oder verharmlosen, aber sie wissen, dass sie entlarvt wurden. Dadurch werden sie zurückhaltender. Für die Betroffenen selbst wirkt sich die Konfrontation positiv aus, weil sie sich nicht mehr als Spielball von destruktiven Machenschaften fühlen, sondern aktiv zur Verbesserung ihrer Situation beitragen. Damit sind sie nicht weiter in der Opferrolle gefangen.

Psychische Gewalt schadet

Neben Intrigen kann auch psychische Gewalt Familienmitgliedern nachhaltig Schaden zufügen. Dazu gehören Einschüchterung, Erniedrigung, Abwertung, Lächerlichmachen, Anschreien und Schimpfen. Laut einer Untersuchung sind über 23 Prozent der Kinder in der Schweiz von psychischer Gewalt betroffen. Wichtig: Bei verfahrenen Situationen in Familien bieten Beratungsstellen, Sozialdienste sowie telefonische Elternnotrufe Unterstützung.