Mit Achtsamkeit Stress reduzieren, das ist en vogue. Achtsamkeit ist jedoch kein moderner Begriff, sondern hat eine lange Tradition.
Alles zu Ende denken, in allen möglichen Variationen, verschlungene Gedankenschlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz beissen – und Erika den Schlaf rauben. Dauernd einen Kloss im Hals, dauernd auf Draht. Sie schlürft Beruhigungstee, wirft Kräuterdragées ein, träufelt sich Baldriantröpfchen auf die Zunge, aber gegen die Dauerschlaflosigkeit ist kein Kraut gewachsen. Um endlich wieder ohne Tabletten durchschlafen zu können, versucht sie es mit Schlaftraining, mit Hypnose – auch das ohne Erfolg.
Nach fünf Jahren Leidenszeit erhält Erika schliesslich von ihrem Arzt den Tipp, es mit MBSR zu versuchen. Bald weiss sie, was damit gemeint ist. Die vier Buchstaben stehen für: Mindfulness-Based Stress Reduction, was so viel bedeutet wie: Stress mindern durch Achtsamkeit.
«Achtsamkeit», erklärt MBSR-Lehrerin Ingeborg Mösching, «bedeutet, den Fokus auf den jetzigen Moment zu legen und sich so bewusst zu werden, was gerade jetzt in Körper und Kopf abgeht.»
«Absichtslos, ohne sie als gut oder schlecht zu beurteilen und zu bewerten», so Mösching.
Achtsamkeit ist kein neuer Begriff: Sie ist eine uralte spirituelle Haltung, die aus dem Buddhismus stammt. Ursprünglich bedeutet sie rechte Achtsamkeit, samma-sati; sie ist die siebte Stufe des edlen achtfachen Pfades, wie ihn Buddha gelehrt hat. Er ist Teil eines Läuterungsweges und weist Menschen, die nach höchstem spirituellen Fortschritt streben, den Weg.
Auch in der modernen Form – ohne spirituellen Hintergrund – ist das Üben von Achtsamkeit mehr als eine blosse Methode, wie Ingeborg Mösching sagt: «Vielmehr ist es eine innere Haltung gegenüber allen Lebenserfahrungen. Zu ihnen gehört, unabhängig von unserem Tun, auch Unangenehmes und Schmerzvolles.» Sie meint damit: körperliche und seelische Schmerzen, Krankheit, Müdigkeit, Trauer, Tränen, Zweifel. «Unangenehmes wird in unserer Gesellschaft oft ausgeklammert. Viele Menschen verinnerlichen dies als inneres Muster und wischen Unerquickliches, sobald es auftaucht, gleich wieder weg.»
Das MBSR-Programm ist eine Art der Selbsthilfe und ergänzt eine medizinische oder psychotherapeutische Behandlung.
Es stammt vom US-amerikanischen Mikrobiologen und Verhaltensmediziner Jon Kabat-Zinn, der es 1979 ins Leben gerufen und dafür Elemente aus dem Buddhismus westlichen Gegebenheiten angepasst hat.
Im Rahmen eines achtwöchigen Kurses lernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer via Meditation und sanfte Körperübungen (Yoga), den Fokus immer wieder von Neuem aufs Jetzt zu richten. Das wöchentliche Treffen dauert zweieinhalb Stunden; abgerundet wird der Kurs mit einer ganztägigen Einheit im Zeichen der Achtsamkeit.
Damit MBSR nachhaltig wirkt, ist es nötig, Achtsamkeit formal zu praktizieren, mindestens dreissig Minuten täglich, während fünf Tagen pro Woche. Darum nimmt Ingeborg Mösching nur Personen in ihre Kurse auf, die dazu bereit sind. «Früchte ernten kann man nur mit regelmässigem Üben», betont sie und warnt vor zu euphorischen Erwartungen.
Nur so übertrage sich die innere Achtsamkeit auf das tägliche Leben. «Man muss sie üben und Erfahrungen sammeln. Einfach ein Buch darüber zu lesen bringt nichts. Die Praxis ist wie ein Glockenschlag, der Achtsamkeit im Alltag nachklingen lässt.»
Dieses Nachklingen ist insbesondere in Stresssituationen, wie sie zum Leben gehören, wertvoll: Wenn sich die Arbeit auftürmt, der Chef nervt oder die Mutter im Sterben liegt. «Durch Achtsamkeit vergrössert sich der Raum zwischen dem Auslöser von Stress und der eigenen Reaktion: Man hat mehr Raum zu wählen, wie man reagieren will. So erkennt man zum Beispiel, dass es sinnvoll ist, Wut verrauchen zu lassen und sich nicht zu spontanen, aggressiven Impulsen in Form von Worten oder Taten
verleiten zu lassen, weil das oft genug endgültig in die Bredouille führt.»
Lernen zu wollen, bewusst auf Stress zu reagieren, das ist es, was viele Menschen solche Kurse besuchen lässt.
In dieser Sehnsucht sieht Ingeborg Mösching den Ursprung für die Beliebtheit dieses Angebots.
Ein weiterer Grund ist ihrer Meinung nach der Umstand, dass MBSR gut erforscht sei. «Alles, was wissenschaftlich erwiesen ist, gewinnt hier im Westen an Seriosität.» Studien zeigen nämlich, dass Teilnehmende, welche die Praxis nach dem Kurs beibehalten und im Alltag anwenden, unter weniger Stress und unter weniger körperlichen sowie seelischen Beschwerden leiden – dass sich ihre Lebensqualität verbessert. Zudem zeigt vermehrt achtsame Haltung bei leichten Depressionen positive Effekte. Allerdings raten Fachleute ab bei schweren Depressionen, schweren psychischen Erkrankungen, bei starken Suchterkrankungen oder bei kräftezehrenden Krankheiten.
Ebenso erwiesen ist, dass regelmässiges Meditieren Spuren im Gehirn hinterlässt:
Die Aktivität des Mandelkerns (Amygdala) hingegen nimmt ab; dieser schüttet bei Stress das Hormon Cortisol aus, das den Organismus belastet. Weiter sinken beim Meditieren Herzfrequenz und Blutdruck; bei regelmässigem Meditieren wird das Immunsystem durch die Zunahme entsprechender Zellen gestärkt.
Diese modernen und handfesten Erkenntnisse der Wissenschaft lassen jedoch hie und da vergessen, dass es bei der Meditation im Grund um viel mehr als um physiologische Verbesserungen geht. Das Ziel, das es paradoxerweise gleichzeitig loszulassen gilt, der Meditation in seinem ursprünglichen Sinne, ist die spirituelle Befreiung: die mystische Schau der Dinge, die Erleuchtung: jenes Bewusstsein jenseits des Erklärbaren, in dem man nicht mehr von den Unwirtlichkeiten des Lebens tangiert wird und letztlich aus dem Kreislauf der Geburten ausscheidet oder das ewige Leben gewinnt.
Es war – nebst dem Leidensdruck – die wissenschaftliche Bestätigung, die Erika überzeugt hat, diesen Weg zu versuchen. «Und dass mir ein Arzt dazu geraten hat. Denn ich wollte etwas Handfestes, nichts Abgehobenes, Ungefähres.» Der Erfolg stellte sich nach und nach ein – vor allem dank des regelmässigen Übens. «Statt am Abend TV zu schauen, meditiere ich.» Keine Spur mehr von Panikattacken. Und sie verbringt die Nacht wieder mit Schlafen und nicht mehr mit Grübeleien – ohne mit Schlaftabletten nachzuhelfen.